5.1.2 Einzelfälle
S. auch Kapitel III.S.4 "Risikosphären und Beweislastverteilung". R. 126 EPÜ (Zustellung durch die Post) und R. R. 127 EPÜ (Zustellung durch technische Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung) enthalten Vorschriften für die Zuweisung der Beweispflicht in Zweifelsfällen (für die geänderten Regeln s. den Beschluss CA/D 6/14 in ABl. 2015, A17 und die erläuternde Mitteilung in ABl. 2015, A36, insbesondere Nrn. 3.1 ff.). S. auch Kapitel III.G.4.3.7.
In T 632/95 stellte die Kammer fest, dass der Umstand, dass der Eingang eines Schriftstücks nicht bewiesen werden kann, zulasten des Einreichenden geht, wie umgekehrt dem EPA der Nachweis des Zugangs amtsseitig zugestellter Schriftstücke obliegt.
Es sei anzumerken, dass ein Verfahrensbeteiligter, der behaupte, etwas sei nicht geschehen, dies nur schwer nachweisen könne. Der Verfahrensbeteiligte könne im Wesentlichen mutmaßen, was geschehen sein könnte, oder darlegen, was normalerweise bei Zugang eines Schriftstücks geschehe, um Zweifel an den Beweisen des EPA zu wecken. Ein stringenter Beweis, dass ihm der Brief nicht zugegangen sei, sei jedoch kaum jemals möglich. Das EPA sei ebenfalls in einer schwierigen Lage, wenn ein Anmelder behaupte, dass ihm eine Mitteilung nicht zugegangen sei. Das EPA müsse in diesem Fall bei der Post einen Nachforschungsantrag stellen und sich auf die erhaltenen Auskünfte verlassen. Diese seien meist unbefriedigend, da keine Einzelheiten genannt würden. Nach einer gewissen Zeit seien die relevanten Informationen unter Umständen gar nicht mehr erhältlich. Dies sollte dem Anmelder jedoch nicht zum Nachteil gereichen, insbesondere, wenn es um eine Mitteilung über einen Rechtsverlust gehe. Derartige Probleme ließen sich durch eine Zustellung von solchen Mitteilungen per Einschreiben mit Rückschein vermeiden (J 9/05 und J 18/05).
Gemäß R. 126 (2) EPÜ (ehemalige R. 78 (2) EPÜ 1973) muss im Zweifel das EPA den Tag des Zugangs beweisen. Nach der Entscheidung T 247/98 sind bei der Bestimmung der Bedeutung des Tatbestandsmerkmals "im Zweifel" in der deutschen Fassung die französische und die englische Fassung dieser Regel zu beachten, die einen Streitfall voraussetzen ("en cas de contestation" bzw. "in the event of any dispute"). Aus allgemeinen Grundsätzen über die Darlegungslast der Parteien folgt, dass eine Partei, die sich auf die Anwendung einer für sie günstigen gesetzlichen Regelung berufen will, einen diese Anwendung rechtfertigenden Sachverhalt darzulegen hat, selbst wenn sie für diesen Sachverhalt letztlich nicht die Beweislast trägt. Die Tatsache, dass das EPA in einem Zweifel im Sinne von dieser Regel, d. h. im Streitfall, die Beweislast für den Tag des Zugangs trägt, bedeutet darüber hinaus nicht, dass eine Partei, die sich auf den verspäteten Eingang eines Schriftstücks des EPA bei ihr selbst berufen will, keinerlei Verpflichtung hätte, zur Aufklärung von Umständen beizutragen, die in ihrer eigenen Sphäre liegen, sondern sich gewissermaßen zurücklehnen und abwarten könne, ob es dem EPA wohl gelingt herauszufinden, wann das Schriftstück bei ihr eingegangen ist. Ein Zweifel im Sinne dieser Vorschrift wird daher erst begründet, wenn geltend gemacht wird, ein Schriftstück sei tatsächlich später als zehn Tage nach dem Datum der Abgabe zur Post zugegangen.
In J 3/14 stellte die Kammer fest, dass das EPA die Beweislast trägt, wenn der zugelassene Vertreter behauptet, eine Mitteilung nicht erhalten zu haben. Nach Auffassung der Kammer war zumindest glaubhaft gemacht worden, dass die Post das Schreiben angesichts einer Vollmacht, die die Abholung "sämtlicher Einschreiben" zu gestatten schien, irrtümlicherweise an eine unbefugte Person ausgehändigt hatte. Der Beschwerdeführer legte auch Beweise für die Abwesenheit der Vertreterin von ihrem Geschäftssitz vor. Die Kammer stellte fest, dass in einem Fall, in dem das EPA die Beweislast trägt, im Zweifel zugunsten des Anmelders zu entscheiden ist. Verbleibende Zweifel am tatsächlichen Geschehen dürfen dem Anmelder nicht zum Nachteil gereichen. Dies gilt umso mehr in einer Situation wie der vorliegenden, in der die unmittelbare Folge für den Anmelder die Zurückweisung seiner Anmeldung gewesen wäre.
In T 50/12 befand die Kammer, dass das EPA durch die Vorlage des Rückscheins seiner Pflicht nach R. 126 (2) EPÜ nachgekommen ist, den tatsächlichen Tag des Zugangs beim Empfänger nachzuweisen. Somit lag die Beweislast beim Beschwerdeführer. Als Beleg für die spätere Zustellung legte der Beschwerdeführer zwei Dokumente vor; keines dieser Dokumente konnte die Beschwerdekammer überzeugen.
Nach dem EPÜ ist das Eingangsdatum eines Stücks beim EPA für die Frage der Fristwahrung maßgeblich. Somit obliege dem Einreichenden die Beweislast dafür, dass die Einreichung erfolgt ist. Die Unbeweisbarkeit, dass es wahrscheinlicher ist, dass ein Stück eingereicht wurde, als dass es nicht eingereicht wurde, müsse daher zulasten des Einreichenden gehen – so die Kammer in T 1200/01. In diesem besonderen Fall überzeugten die verfügbaren Beweise die Kammer nicht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die angebliche Einreichung stattgefunden habe, größer sei als die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht stattgefunden habe. Entgegen der Entscheidung T 1200/01 stellte die Kammer im Fall T 2454/11 fest, dass die strenge Beweislastverteilung zu Lasten des Absenders eines an das EPA gerichteten Schreibens nicht durch ein Abwägen nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Zugangs abgemildert ist. Ein solcher Prüfungsmaßstab würde zu einer erheblichen Belastung der Rechtssicherheit sowie zu einer Aufweichung der gebotenen Rechtsklarheit in förmlichen Verfahren wie denen des EPA führen. Denn der im Streitfalle auszulegende unbestimmte Rechtsbegriff der Wahrscheinlichkeit und das gerichtliche Abwägen, ob von einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit einer Zustellung auszugehen ist, würden zu einer vielfältigen Kasuistik mit bisweilen nicht auszuschließenden Widersprüchen führen, die dem Gebot eines transparenten und übersichtlichen Verfahrens entgegenstehen und deshalb im Interesse der am Verfahren beteiligten Dritten und der Öffentlichkeit zu vermeiden sind. Folglich vermag eine hohe Wahrscheinlichkeit der Zustellung nicht als Kriterium bei der Entscheidung über den Zugang eines Schreibens dienen. Vielmehr muss der Absender den Zugang zur Überzeugung der Kammer beweisen.
In J 10/91 entschied die Kammer, dass der Absender das Risiko trägt, wenn ein Brief samt beigefügtem Scheck zur Gebührenentrichtung verloren geht und es für die Behauptung, er sei im EPA verloren gegangen, weder einen Beweis noch eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt. Sogar der schlüssige Beweis für die Abgabe eines Schriftstücks zur Post kann nicht als hinreichender Beweis dafür gelten, dass das Schriftstück auch beim EPA eingegangen ist. Diesbezüglich stellte die Kammer in J 8/93 fest, dass der Anmelder die Folgen der Nichteinreichung eines Schriftstücks zu tragen hat, wenn dieses von der Post nicht ausgeliefert worden ist.
Das EPA trägt nach R. 125 (4) EPÜ (ehemalige R. 82 EPÜ 1973) – Absatz 4 nicht geändert durch CA/D 6/14 – die Beweislast für die formgerechte Zustellung von Schriftstücken an die Verfahrensbeteiligten. In T 580/06 stellte sich die Frage, ob der "OK"-Vermerk auf dem Sendebericht eines per Fax übermittelten Schriftstücks als Nachweis ausreichte. Angesichts einer noch fehlenden einschlägigen Rechtsprechung des EPA hat die Kammer die im deutschen Recht entwickelten verfahrensrechtlichen Grundsätze für die Zustellung per Telefax herangezogen, da die fragliche Telefaxübermittlung auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgte. In Übereinstimmung mit der deutschen Rechtsprechung zu dieser Frage stellte die Kammer fest, dass eine zeitgemäße sachgerechte Beurteilung der Frage des Zugangs eines Telefax beim Empfänger der technischen Entwicklung der Telefaxtechnik Rechnung tragen sollte. Die heutzutage erreichte hohe Zuverlässigkeit dieser Technik lässt sich unter anderem durch die Festlegung von Protokollen erklären, auf deren Grundlage moderne Telefaxgeräte funktionieren. Durch verschiedene Überlegungen kam die Kammer zu dem Schluss, dass der "OK"-Vermerk auf dem Sendebericht eines Telefax als Beweis für die fehlerlose und vollständige Zustellung anzusehen ist, durch welche das Telefax in den Verantwortungsbereich des Vertreters gelangt ist. Ist das Telefax, wie durch den "OK"-Vermerk angezeigt, in den Verantwortungsbereich des Empfängers gelangt, so findet ein Risikoübergang statt, wobei der Empfänger die Risiken seiner eigenen Sphäre zu tragen hat.
Aus den R. 125 (4) und 126 (2) EPÜ ergibt sich, dass das EPA sowohl die Risiken zu tragen hat, die sich in der eigenen Sphäre ergeben, als auch die sog. Transportrisiken, z. B. das Risiko des Briefverlusts auf dem Weg zum Empfänger. Davon zu unterscheiden sind jedoch die Risiken, die im Organisations- und Machtbereich des Empfängers liegen (T 1535/10, s. Leitsatz). S. Kapitel III.S.4 "Risikosphären und Beweislastverteilung"). Auch bei der neu eingeführten elektronischen Zustellung nach R. 127 EPÜ gilt dieselbe Risikoverteilung. S. auch die erläuternde Mitteilung des EPA zur Änderung der R. 124 bis 127 EPÜ und R. 129 EPÜ (ABl. 2015, A36).
Zu einem "verlorengegangenen Antrag", siehe T 8/16.