3.1. Offenbarung der in der Nachanmeldung beanspruchten Erfindung in der Voranmeldung
Die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung gemäß Art. 88 EPÜ ist nur dann anzuerkennen, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann (G 2/98, ABl. 2001, 413).
Gemäß der früheren Entscheidung T 136/95 (ABl. 1998, 198) ist eine Patentanmeldung kein allgemeinverständlicher Text, der für die Allgemeinheit bestimmt ist; sie ist vielmehr ein für den Fachmann bestimmter Fachtext. Anders als bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zieht der Fachmann den Stand der Technik allerdings nicht in seiner Gesamtheit, sondern nur insoweit heran, als er ihm aufgrund seiner normalen Kenntnisse bekannt ist, und mit diesem Wissen oder durch Vornahme einfacher Ausführungsschritte kann er ermitteln, ob es sich um dieselbe Erfindung handelt. In diesem Fall wurde ein in der europäischen Anmeldung beanspruchtes strukturelles Merkmal von einem in der Prioritätsanmeldung beschriebenen allgemeinen funktionellen Merkmal gestützt.
In T 744/99 stellte die Kammer unter Verweis auf G 2/98 (ABl. 2001, 413) fest, dass die Zugrundelegung des allgemeinen Fachwissens lediglich zum besseren Verständnis und zur kontextuellen Einordnung der Bedeutung der technischen Offenbarung beitragen kann, nicht aber zur Vervollständigung einer ansonsten unvollständigen technischen Lehre. Im vorliegenden Fall könne dem Anspruch 8 der Nachanmeldung nicht der beanspruchte Prioritätstag zuerkannt werden, da die Prioritätsunterlage nur ein neues Signalprotokoll, nicht aber einen geeigneten Empfänger offenbare, Anspruch 8 sich aber auf einen solchen Empfänger beziehe.
In T 1312/08 hatte der Patentinhaber vorgebracht, dass die Definition von PU im Streitpatent korrekt und diejenige im Prioritätsdokument fehlerhaft sei. Unter Anführung der ständigen Rechtsprechung kann die Nacharbeitung eines Beispiels und insbesondere eines Verfahrens, das nicht standardisiert ist und in Enzyklopädien, Lehrbüchern, Wörterbüchern und Handbüchern nicht aufgeführt wird, nicht als Anwendung des allgemeinen Fachwissens angesehen werden. Allein die Tatsache, dass ein nicht zum allgemeinen Fachwissen gehörender Test durchgeführt werden musste, um herauszufinden, ob die Definition von PU im Dokument fehlerhaft war, macht deutlich, dass sich die im Patent verwendete abweichende Definition von PU unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht unmittelbar und eindeutig dem Gesamtinhalt des Prioritätsdokuments entnehmen ließ. S. auch T 1579/08.