3. Nächstliegender Stand der Technik
Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der zur Bewertung der erfinderischen Tätigkeit heranzuziehende nächstliegende Stand der Technik in der Regel ein Dokument des Stands der Technik ist, das einen Gegenstand offenbart, der zum gleichen Zweck oder mit demselben Ziel entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung und die wichtigsten technischen Merkmale mit ihr gemein hat, der also die wenigsten strukturellen Änderungen erfordert (s. dieses Kapitel I.D.3.2.). Ein weiteres Kriterium bei der Wahl des erfolgversprechendsten Ausgangspunkts ist die Ähnlichkeit der technischen Aufgabe (s. dieses Kapitel I.D.3.3.). In einigen Entscheidungen wurde erläutert, wie der der Erfindung am nächsten kommende Stand der Technik ermittelt wird, von welchem aus der Weg zur beanspruchten Lösung für einen Fachmann am einfachsten ist bzw. der den erfolgversprechendsten Ausgangspunkt für eine naheliegende Entwicklung darstellt, die zur beanspruchten Erfindung führt (s. dieses Kapitel I.D.3.4. und I.D.3.5.).
In T 1212/01 stellte die Kammer fest, dass die Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik kein subjektiver, sondern ein objektiver Vorgang ist. Sie stützt sich auf einen objektiven Vergleich des Gegenstands, der Ziele und Merkmale der verschiedenen Teile des Stands der Technik durch den Durchschnittsfachmann und hat zum Ergebnis, dass aus diesen Teilen einer als nächstliegender Stand der Technik ermittelt wird.
Der nächstliegende Stand der Technik ist aus der Sicht des Fachmanns am Tag vor dem wirksamen Anmelde- oder Prioritätstag der beanspruchten Erfindung zu beurteilen (T 24/81, ABl. 1983, 133; T 772/94; T 971/95; s. auch Richtlinien G‑VII, 5.1 – Stand März 2022).
Es sollte bei dem Versuch, die Fähigkeiten und das Verhalten eines Fachmanns bei dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz zu bewerten, als nächstliegender Stand der Technik derjenige als "Sprungbrett" gewählt werden, den der Fachmann realistischerweise im Hinblick auf die gegebenen "Umstände" der beanspruchten Erfindung genommen hätte. Aus den gegebenen "Umständen" sollte Aspekten wie der Bezeichnung des Gegenstands der Erfindung, der Formulierung der ursprünglichen Aufgabe und der beabsichtigten Verwendung sowie der zu erzielenden Wirkungen generell mehr Gewicht beigemessen werden als einer Höchstzahl identischer technischer Merkmale (T 870/96; s. auch T 66/97, T 314/15).
In T 1450/16 stimmte die Kammer der Ansicht des Beschwerdeführers nicht zu, wonach gemäß dem maßgebenden Aufgabe-Lösungs-Ansatz der Fachmann damit betraut werden könne, den nächstliegenden Stand der Technik oder einen geeigneten Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auszuwählen. Nach Auffassung der Kammer kommt somit der Fachmann nach Art. 56 EPÜ erst ins Spiel, wenn die objektive technische Aufgabe ausgehend vom ausgewählten "nächstliegenden Stand der Technik" bereits formuliert worden ist. Erst dann können das einschlägige Fachgebiet des fiktiven Fachmanns und der Umfang dieses Fachgebiets angemessen definiert werden (s. dieses Kapitel I.D.8.1). Deshalb kann die Auswahl des nächstliegenden Stands der Technik im ersten Schritt des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes nicht vom "Fachmann" vorgenommen werden. Diese Auswahl ist vielmehr vom zuständigen Entscheidungsorgan auf der Grundlage der etablierten Kriterien zu treffen, um eine rückschauende Analyse zu vermeiden.
In T 1742/12 bestätigte die Kammer T 967/97 und T 21/08: Wenn dem Fachmann mehrere gangbare Wege offenstehen, d. h. von mehreren unterschiedlichen Dokumenten ausgehende Wege, die zu der Erfindung führen könnten, erfordert es die Ratio des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, die Erfindung in Bezug auf alle diese Wege zu prüfen, bevor ihr die erfinderische Tätigkeit zugesprochen wird (s. auch T 323/03, T 1437/09, T 308/09, T 1261/14, T 1339/14, T 259/15, T 62/16, T 1076/16). Ist die Erfindung für den Fachmann im Hinblick auf mindestens einen dieser Wege naheliegend, so ist sie nicht erfinderisch (s. auch T 558/00, T 308/09, T 1437/09, T 2418/12, T 1570/13, T 62/16, T 64/16, T 2443/18). Gemäß T 967/97 muss, wenn die erfinderische Tätigkeit verneint wird, die Wahl des Ausgangspunkts zudem nicht konkret begründet werden. In T 261/19 rechtfertigte die Kammer dies damit, dass die beanspruchte Erfindung grundsätzlich gegenüber jeglichem Stand der Technik nicht naheliegend sein darf. In T 1742/12 stellte die Kammer auch fest, dass ein Stand der Technik in Bezug auf den beabsichtigten Zweck oder anderweitig so "weitab" von der beanspruchten Erfindung liegen kann, dass es als unvorstellbar angesehen werden darf, dass der Fachmann durch Modifikation dieses Stands der Technik zu der beanspruchten Erfindung gelangt. Ein solcher Stand der Technik könnte als "ungeeignet" bezeichnet werden. Dies schließt aber nicht aus, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit von einem Stand der Technik auszugehen, der einen abweichenden Zweck hat (s. auch T 855/15, T 2304/16, T 1294/16, T 2443/18, T 1112/19).
Liegt ein Stand der Technik "zu weitab" von einer Erfindung, müsste es möglich sein aufzuzeigen, dass die Erfindung für einen Fachmann im Hinblick auf diesen Stand der Technik nicht naheliegend ist (T 855/15, T 2057/12, T 2304/16). Ein gattungsmäßig anderes Dokument kann normalerweise nicht als realistischer Ausgangspunkt in Betracht gezogen werden (T 870/96, T 1105/92, T 464/98, T 2383/17).
In T 176/89 gelangte die Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass zur Definition des nächstliegenden Stands der Technik zwei Dokumente miteinander kombiniert werden mussten. Sie begründete ihre Auffassung damit, dass die Dokumente ausnahmsweise in Verbindung miteinander zu lesen seien, weil sie demselben Patentinhaber gehörten, im Wesentlichen von denselben Erfindern stammten und sich offenbar auf dieselbe Untersuchungsreihe bezögen. Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sollten aber zwei Dokumente in der Regel nicht miteinander kombiniert werden, wenn aufgrund der Sachlage eindeutig feststehe, dass ihre Lehren widersprüchlich seien (s. dazu auch T 487/95).
In T 2579/11 entschied die Kammer, dass es, nur weil die Beschreibung der Nachanmeldung alles in allem detaillierter ist als die der Prioritätsunterlage, nicht gerechtfertigt ist, bei der Wahl des nächstliegenden Stands der Technik von der Nachanmeldung anstatt von der Prioritätsunterlage auszugehen.
Eine offenkundige Vorbenutzung kann als nächstliegender Stand der Technik herangezogen werden (T 1464/05).
In T 172/03 stellte die Kammer fest, dass der Begriff "Stand der Technik" in Art. 54 EPÜ 1973 als "Stand der Technologie" verstanden werden sollte, wobei der Begriff "alles" in Art. 54 (2) EPÜ 1973 so auszulegen ist, dass er sich auf die für ein technisches Gebiet relevanten Informationen bezieht. Es ist kaum anzunehmen, dass das EPÜ vorsieht, dass der Durchschnittsfachmann für ein (technisches) Gebiet alles zur Kenntnis nehme – auf allen Gebieten der menschlichen Kultur und unabhängig vom informativen Charakter.
Die Kammer in T 2101/12 vertrat dagegen die Auffassung, dass die in T 172/03 wiedergegebene Auslegung des Art. 54 (2) EPÜ falsch war. Nach Auffassung der Kammer in T 2101/12 hätte der Gesetzgeber einen anderen Begriff verwendet, wenn tatsächlich eine solche Bedeutung beabsichtigt wäre. Sie stellte fest, dass der Wortlaut von Art. 54 (2) EPÜ klar ist und keiner Auslegung bedarf. Art. 54 (2) EPÜ selbst enthält keine Beschränkungen dahin gehend, dass ein nichttechnischer Vorgang wie das Unterzeichnen eines Vertrags in einem Notariat nicht als Stand der Technik gelten kann.
In T 1148/15 führte die Kammer aus, dass sich die Annahme, wonach der übrige Stand der Technik weniger relevant sei als der als nächstliegend identifizierte Stand der Technik, als falsch erweisen kann, zum Beispiel wenn überzeugend nachgewiesen werden kann, dass der Fachmann ausgehend von einem anderen Stand der Technik auf naheliegende Weise zum beanspruchten Gegenstand gelangt wäre, nicht aber ausgehend vom identifizierten nächstliegenden Stand der Technik. In dieser Situation und auch im Zweifelsfall muss der Aufgabe-Lösungs-Ansatz möglicherweise für jeden Stand der Technik, der ebenfalls als geeigneter Ausgangspunkt infrage kommt, wiederholt werden.
In T 405/14 erklärte die Kammer, dass der Begriff "nächstliegender Stand der Technik", wie er von der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelt worden ist, offenbar zwei unterschiedliche Bedeutungen umfasst, die vom Ausgang des Einwands nach Art. 56 EPÜ abhängen. Einerseits scheint bei der Schlussfolgerung, dass eine beanspruchte Erfindung erfinderisch ist, der Begriff "nächstliegender Stand der Technik" auf der Annahme zu beruhen, dass es eine Metrik gibt, um den Abstand zwischen dem Stand der Technik und der Erfindung zu definieren, und dass eine Erfindung, die durch den "nächstliegenden Stand der Technik" nicht nahegelegt wird, erst recht nicht naheliegend wäre in Bezug auf den übrigen Stand der Technik, der definitionsgemäß weniger naheliegt. Die zweite Bedeutung wird oft dahin gehend formuliert, dass der "nächstliegende Stand der Technik" dieselbe Aufgabe behandeln muss wie die Erfindung. Damit soll vermieden werden, dass man rückschauend zu einer Feststellung der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gelangt. Wie die Kammer abschließend erklärte, muss der "nächstliegende Stand der Technik" keineswegs einzigartig sein, denn die Grundregel lautet, dass eine Erfindung nicht erfinderisch ist, wenn sie für den Fachmann von einem beliebigen Ausgangspunkt aus ohne nachträgliche Erkenntnisse naheliegend gewesen wäre.
In T 97/14 befand die Kammer, dass ein begründeter Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit den Stand der Technik ermitteln und deutlich und vollständig darlegen muss, welche Merkmale der beanspruchten Erfindung aus dem Stand der Technik bekannt und wo diese Merkmale im Stand der Technik zu finden sind. Mit anderen Worten ist ein korrektes Mapping der Merkmale erforderlich. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn sich der Einwand auf nicht dokumentarischen Stand der Technik stützt, weil solche Nachweise schwieriger zu überprüfen sind.
- T 1733/21
Zusammenfassung
Dans l'affaire T 1733/21, les revendications 1 et 6 de la requête dont la division d'opposition avait jugé qu'elle satisfaisait aux exigences de la CBE peuvent être résumées comme suit : (1) Procédé d'impression de substrat et de personnalisation dudit substrat par dorure, (6) Système d'impression de substrat et de personnalisation du dit substrat par dorure comprenant un groupe d'impression du substrat par jet d'encre adapté à la mise en relief de zones au moyen d'encre et/ou de vernis.
Concernant l'activité inventive, la requérante (opposante) a présenté des objections en partant des documents D3, D2 et D4. La division d'opposition a conclu qu'aucun des documents D2 et D3 ne pouvaient constituer un point de départ valable, car ils ne concernaient pas des procédés ou systèmes d'impression et de personnalisation de substrat par dorure sélective et ne visaient donc pas à obtenir le même effet que l'invention. La chambre ne partage pas ce raisonnement.
La chambre énonce que de manière générale, pour être prometteur, le point de départ doit se situer dans le même domaine technique que l'invention ou dans un domaine voisin. S'il est vrai qu'un état de la technique qui vise le même effet technique que l'invention semble a priori prometteur, il ne s'agit pas d'une condition sine qua non pour sa prise en compte. S'il en était autrement, des éléments de l'état de la technique qui sont silencieux quant à l'effet visé (tels que, par exemple, la plupart des usages antérieurs) ne sauraient jamais constituer un point de départ valable, ce qui est contraire à la pratique établie de l'OEB (cf. T 1742/12).
La chambre énonce que c'est à l'opposante de démontrer que l'invention n'est pas inventive ; si son choix du point de départ pour mener cette démonstration n'est pas aberrant, il convient d'en tenir compte. Or, le seul fait que la technologie utilisée dans les documents D2 et D3 était basée sur le gaufrage ne les disqualifiait pas d'office comme points de départ. La chambre a donc jugé que la division d'opposition n'aurait pas dû écarter d'office D2 et D3 comme points de départ.
Partant du document D3, la chambre a estimé que bien que D3, même en combinaison avec D9, pourrait conduire à l'invention, cela n'était pas démontré de manière évidente par les connaissances générales de l'homme du métier. Le procédé de D3 est assez différent; l'étape d'impression décrite y a une fonction différente de celle revendiquée. Par conséquent, D3, même en combinaison avec D9, ne conduisait pas à l'objet des revendications 1 ou 6.
Partant du document D2, la chambre a estimé que la requérante n'a pas démontré de façon convaincante que l'homme du métier aurait été conduit à l'invention par le document D2 seul ou en combinaison avec le document D4. L'affirmation que l'homme du métier aurait été conduit à l'invention par la combinaison des documents D2 et D4 n'est pas plausible, car il s'agit de technologies différentes (mise en relief par impression vs. gaufrage). Aux yeux de la chambre, l'homme du métier n'avait pas de raison objective d'isoler l'enseignement concernant l'impression à jet d'encre dans le document D4 et de l'incorporer dans la station d'encollage du dispositif décrit dans le document D2. Le raisonnement de la requérante reposait sur une analyse a posteriori. Par conséquent, D2, même en combinaison avec D4, n'aurait pas conduit l'homme du métier à l'objet des revendications 1 ou 6.
La chambre n'a pas non plus été convaincue par les lignes d'attaque partant du document D4.
En conclusion la requérante n'a pas convaincu la chambre que l'objet de la revendication 1 n'impliquait pas d'activité inventive. Les parties étaient d'accord que la conclusion relative à l'activité inventive du procédé selon la revendication 1 s'appliquait également au dispositif correspondant selon la revendication 6. Comme les objections par la requérante contre le maintien du brevet n'étaient pas fondées, la chambre a rejeté le recours.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache