2.2. Handlungen oder Unterlassungen, die die rechtzeitige und effiziente Durchführung der mündlichen Verhandlung beeinträchtigen
Keine Bestimmung des EPÜ kann einen Beteiligten daran hindern, zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens einen Antrag auf mündliche Verhandlung zurückzuziehen. Die Tatsache, dass ein solcher Antrag zurückgenommen wird, stellt an sich kein schuldhaftes Verhalten dar und kann somit nicht zur Bewertung der Billigkeit gemäß Art. 104 (1) EPÜ 1973 herangezogen werden (T 91/99).
Auf der Grundlage von Art. 116 (1) EPÜ 1973 hat jeder Beteiligte das absolute Recht, eine mündliche Verhandlung zu beantragen, wenn er es für notwendig erachtet. Ein solcher Antrag auf mündliche Verhandlung ist nicht missbräuchlich, wenn einer der Verfahrensbeteiligten eine weitere Anreise hat als der andere. Die Behauptung eines Verfahrensmissbrauchs kann ferner nicht darauf gestützt werden, dass es sich bei den zu erörternden Problemen um einfache Fragen handelt, die ohne Weiteres schriftlich dargelegt werden könnten (T 79/88).
In T 297/91 war es in der ersten mündlichen Verhandlung aus verschiedenen Gründen nicht möglich gewesen, alle Fragen zu entscheiden, sodass die Beschwerdegegner eine zweite mündliche Verhandlung und die Umlage der hierfür entstandenen Kosten auf den Beschwerdeführer (Patentinhaber) beantragt hatten. Die Kammer lehnte den Antrag auf Verteilung der Kosten ab, weil die zweite mündliche Verhandlung aus Gründen erforderlich geworden war, die nicht vom Patentinhaber zu vertreten waren.
In T 432/92 wurde die Vertagung der mündlichen Verhandlung zwei Tage vor dem Termin beantragt: Der Vater des Vertreters des Beschwerdegegners war nämlich am Vortag gestorben. Der Beschwerdeführer beantragte eine anderweitige Verteilung der Kosten, weil sein Vertreter bereits von Amerika zum Sitz des EPA gereist war und dadurch unnötige Kosten entstanden waren. Er führte aus, der Beschwerdegegner hätte sich von einem Kanzleikollegen des eigenen Patentanwalts vertreten lassen können. Die Kammer lehnte den Antrag ab, weil kein missbräuchliches oder leichtfertiges Verhalten der anderen Partei erkennbar war. Insbesondere war die Kammer der Auffassung, dass es dem Beschwerdegegner nicht zuzumuten war, sich von einem anderen Patentanwalt vertreten zu lassen, der an einem einzigen Tag zwei mündliche Verhandlungen (eine andere in einem Parallelfall) hätte vorbereiten und die Reise hätte machen sollen.
In T 154/90 (ABl. 1993, 505) hatte der Einsprechende zunächst auf der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung bestanden, obwohl die Einspruchsabteilung sie nicht für erforderlich hielt; er hatte dann aber acht Tage vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung die Aufhebung des Termins beantragt. Sein Brief kam aus EPA-internen organisatorischen Gründen erst nach der mündlichen Verhandlung zur Einspruchsabteilung. Die Kammer stellte fest, dass acht Tage eine ausreichende Zeitspanne für die Aufhebung des Termins waren, da kein neuer Sachvortrag zu würdigen war (anders T 10/82, ABl. 1983, 407). Da der Brief aus rein internen Gründen zu spät angekommen sei, treffe den Einsprechenden kein Verschulden. Er sei nicht verpflichtet, einen Teil der Kosten der anderen Partei zu tragen. Ein Sinneswandel bezüglich der Notwendigkeit der mündlichen Verhandlung sei ebenfalls nicht als schuldhaftes Verhalten zu werten (s. auch T 383/05).
In T 721/96 vom 15. September 1998 date: 1998-09-15 hatte der Beschwerdegegner vier Arbeitstage vor dem Termin für die mündliche Verhandlung sowohl die Kammer als auch die Beschwerdeführerin vom Verzicht auf das Patent und vom Antrag auf Aufhebung der mündlichen Verhandlung unterrichtet. Die Verzichtserklärung war jedoch nicht ganz eindeutig formuliert. Die Kammer wies den Antrag auf Kostenverteilung mit der Begründung zurück, dass es klar gewesen sei, dass sich die mündliche Verhandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit erübrigte und die Beschwerdeführerin sich bei der Geschäftsstelle der Kammer über den weiteren Verlauf des Verfahrens hätte informieren können.
In T 556/96 nahm der Beschwerdeführer am frühen Nachmittag des Vortages der mündlichen Verhandlung seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurück. Der Vertreter der Gegenpartei war zu diesem Zeitpunkt schon abgereist. Die Kammer war der Auffassung, dass die Mitteilung zu spät erfolgt sei. Die Tatsache, dass die andere Partei ebenfalls einen unbedingten Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hatte, sei unerheblich, weil die andere Partei ihren Antrag auf mündliche Verhandlung ebenfalls hätte zurücknehmen können, wenn sie rechtzeitig darüber informiert worden wäre, dass der Beschwerdeführer seine Teilnahme abgesagt hatte. Die Kammer ordnete daher an, dass der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen habe, die dem Beschwerdegegner für Vorbereitung und Teilnahme an der mündlichen Verhandlung entstanden sind.
In T 42/99, nachdem der Beschwerdeführer I die Teilnahme von Fachleuten an der mündlichen Verhandlung bereits einen Monat vor der mündlichen Verhandlung ankündigt hatte, stellte der Beschwerdeführer II erst kurz vor dem anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung den Antrag, Ausführungen von einem Fachmann in der mündlichen Verhandlung zuzulassen. Darüber hinaus beantragte er die Vertagung der mündlichen Verhandlung, damit sein Fachmann genügend Zeit zur Vorbereitung bekomme. Die Kammer entschied sich für die Verlegung des anberaumten Termins. Dabei hielt sie es allerdings für billig, eine anderweitige Kostenverteilung anzuordnen. In ihrer Begründung war die Kammer der Auffassung, dass zwar eine Erwiderung des Beschwerdeführers II auf die Ankündigung der Teilnahme von Fachleuten an der mündlichen Verhandlung durch den Beschwerdeführer I zwangsweise die von der Beschwerdekammer gesetzte Frist nicht hätte einhalten können. Aber eine "Reaktion" auf die besagte Ankündigung hätte unmittelbar danach folgen sollen, und nicht kurz vor dem anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung. Es sei glaubhaft, dass zu diesem späten Zeitpunkt der Vertreter des Beschwerdeführers I Vorkehrungen bezüglich der Anreise nach München und der Hotelreservierung getroffen hatte, die nicht ohne einen finanziellen Schaden rückgängig zu machen waren.
In T 99/05 reichte der Beschwerdeführer 13 Tage vor der mündlichen Verhandlung einen neuen Versuchsbericht ein, woraufhin der Beschwerdegegner eine Vertagung der mündlichen Verhandlung beantragte. Der Beschwerdeführer wandte sich strikt gegen eine Vertagung. Da die Frage der Vertagung der mündlichen Verhandlung mit der Frage zusammenhing, ob der verspätet eingereichte Versuchsbericht in das Verfahren eingeführt werden sollte, hielt die Kammer es für angezeigt, die mündliche Verhandlung abzuhalten, um den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zur Relevanz des verspäteten Versuchsberichts des Beschwerdeführers zu äußern und anschließend über seine Einführung in das Verfahren zu entscheiden. Am Ende der mündlichen Verhandlung fiel jedoch keine Endentscheidung zur Patentierbarkeit, und es wurde eine zweite mündliche Verhandlung anberaumt, um dem Beschwerdegegner genügend Zeit zu lassen, Gegenversuche einzureichen. Obwohl die verspätete Einreichung keinen Verfahrensmissbrauch darstellte, war offensichtlich, dass die Erledigung des Verfahrens dadurch hinausgezögert worden war. Die Kammer hielt es daher aus Billigkeitsgründen für angebracht, eine entsprechend geänderte Kostenverteilung anzuordnen.
In dem der Entscheidung T 490/05 zugrunde liegenden Fall hatte die Patentinhaberin am Vortag der mündlichen Verhandlung nicht nur ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgenommen, sondern auch ihren Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Folglich war schon vor der mündlichen Verhandlung klar, dass die angefochtene Entscheidung, das Streitpatent zu widerrufen, in jedem Fall rechtskräftig wird. Dadurch wurde die Einsprechende in die für sie vorteilhafte Lage versetzt, ihre Vorbereitung der mündlichen Verhandlung auf den von der Patentinhaberin gestellten Antrag der Kostenverteilung zu konzentrieren. Eine Verteilung der der Einsprechenden erwachsenen Kosten entsprach somit hier nicht der Billigkeit.
In T 1771/08 stellte die Kammer fest, dass eine Kostenverteilung nach Art. 104 (1) EPÜ mangels Billigkeit von vornherein ausscheidet, wenn der Vertreter der Partei, die eine anderweitige Kostenverteilung wegen Verlegung der mündlichen Verhandlung beantragt, der Verlegung der mündlichen Verhandlung vorbehaltlos zugestimmt hat.
In T 258/13 nahm der Beschwerdeführer zwei Tage vor dem anberaumten Termin seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurück, was de facto nur einem Tag im Voraus entsprach, da es schon spätnachmittags (17 Uhr) war. Dies war keine rechtzeitige Unterrichtung. Unter Berufung auf T 556/96 stellte die Kammer fest, dass der Antrag des Beschwerdeführers behandelt werden müsse, als sei er so spät eingegangen, dass der Beschwerdegegner sich bereits umfassend habe vorbereiten müssen, wobei auch der Zeitaufwand für die Anreise am Vortag der mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen sei. Eine Kostenverteilung zugunsten des Beschwerdegegners sei angemessen. Allerdings sei in der mündlichen Verhandlung nur die Anwesenheit eines bevollmächtigten Vertreters erforderlich. Ob eine Begleitperson teilnehme oder nicht, habe keinerlei Auswirkungen auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung; vielmehr handle es sich um eine freie Entscheidung der betreffenden Partei, an der die Gegenseite nicht beteiligt sei. Dem Beschwerdeführer auch die Kosten der Begleitperson aufzuerlegen, widerspreche dem Grundsatz der Billigkeit.
In T 169/14 befand die Kammer, dass ein zur mündlichen Verhandlung geladener Beteiligter aus Gründen der Billigkeit verpflichtet ist, das EPA und den anderen Beteiligten unverzüglich zu benachrichtigen, nachdem er entschieden hat, nicht zur Verhandlung zu erscheinen oder seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurückzuziehen. Folglich kann in Fällen, in denen ein Beteiligter seine Entscheidung über sein Fernbleiben, die Rücknahme seines Antrags auf mündliche Verhandlung oder die entsprechende Benachrichtigung der Kammer unangemessen hinauszögert, eine Kostenverteilung zugunsten der anderen Partei gerechtfertigt sein, wenn die Kosten unmittelbar dadurch verursacht worden sind, dass die Mitteilung nicht innerhalb einer angemessenen Frist eingereicht worden ist. Im vorliegenden Fall nahm der Beschwerdeführer seinen Antrag auf mündliche Verhandlung erst eine Woche vor dem anberaumten Termin zurück. Gleichzeitig reichte er aber Ausführungen zur vorläufigen Auffassung der Kammer ein und beantragte, dass die Kammer diese in ihrer Entscheidungsfindung berücksichtige. Hätte die Kammer die neuen Vorbringen des Beschwerdeführers für zulässig und überzeugend erachtet, hätte aufgrund des bedingten Antrags des Beschwerdegegners eine mündliche Verhandlung stattfinden müssen. Außerdem enthielt die Akte keine Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer seine Mitteilung unangemessen verzögert hat oder eindeutig ungebührlich oder leichtfertig gehandelt hat.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”