5.1.4 Zeitrahmen für die Einreichung von Änderungen
Im Gegensatz zu R. 137 (3) EPÜ (R. 86 (3) EPÜ 1973) wird in R. 80 EPÜ (R. 57a EPÜ 1973) keine Regelung über den Zeitpunkt getroffen, bis zu dem der Patentinhaber die Beschreibung, die Ansprüche und die Zeichnungen unter den in dieser Vorschrift genannten Bedingungen ändern darf.
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern hat der Patentinhaber jedoch nicht in jedem beliebigen Stadium des Einspruchsverfahrens Anspruch darauf, Änderungen vorzunehmen. Insbesondere können Änderungsvorschläge unberücksichtigt bleiben, die in einem späten Verfahrensstadium vorgebracht werden (frühe Entscheidungen, in denen dieser Grundsatz aufgestellt wurde, sind z. B. T 153/85, ABl. 1988, 1; T 406/86, ABl. 1989, 302; T 295/87, ABl. 1990, 470; T 132/92). Die Kammern haben diesen Grundsatz aus verschiedenen Rechtsvorschriften abgeleitet.
In frühen Entscheidungen wurde das Ermessen der Einspruchsabteilung abgeleitet aus Art. 101 (2) EPÜ 1973 in Verbindung mit R. 57 (1) und 58 (2) EPÜ 1973 (s. z. B. T 406/86, ABl. 1989, 302; T 132/92).
In T 382/97 führte die Kammer aus, dass R. 57a EPÜ 1973 (R. 80 EPÜ) und R. 71a EPÜ 1973 (R. 116 EPÜ) die verfahrensrechtlichen Vorbedingungen für Änderungen des Patents durch die Inhaberin vor der Einspruchsabteilung festschreiben, wobei diese Änderungen natürlich mit den Bestimmungen nach Art. 123 (2) und (3) EPÜ 1973 in Einklang zu stehen haben: R. 57a EPÜ 1973 (R. 80 EPÜ) schaffe die rechtliche Basis für solche Änderungen und R. 71a EPÜ 1973 (R. 116 EPÜ) bestimme die für eine solche Änderung angemessene Frist.
Auch in T 688/16 vertrat die Kammer die Auffassung, ein Ermessen, verspätet eingereichte Anträge nicht zuzulassen, basiere auf R. 116 (2) EPÜ. Das Ermessen sei durch eine Mitteilung, dass Gründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen, bedingt. Im vorliegenden Fall sei jedoch keine negative Mitteilung erfolgt, sondern eine Mitteilung, wonach nach vorläufiger Ansicht der Einspruchsabteilung keiner der Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt entgegenstand (abweichend von T 966/17).
In vielen Entscheidungen zogen die Kammern als Rechtsgrundlage für das Ermessen der Einspruchsabteilung, verspätet eingereichte Anträge nicht zu berücksichtigen, Art. 114 (2) EPÜ (manchmal in Verbindung mit R. 71a EPÜ 1973 oder R. 116 EPÜ als dessen Ausführungsvorschrift) heran (s. insbesondere T 1105/98, die die vorbereitenden Dokumente zu R. 71a EPÜ 1973 anführte, ohne jedoch zwischen den Absätzen 1 und 2 von R. 71a EPÜ 1973 zu unterscheiden; s. auch z. B. T 4/98, T 171/03, T 811/08, T 1351/10, T 2069/11, T 66/12, T 1214/12, T 2385/12, T 487/13, T 108/14, T 2332/15; jüngere Entscheidungen s. z. B. T 44/17, T 350/17 und T 879/18). T 1855/13 subsumierte "Schriftsätze" (hier den ersten Hilfsantrag) unter dem Begriff "Tatsachen" in Art. 114 (2) EPÜ. Zur gegenteiligen Auffassung, wonach Art. 114 (2) EPÜ nicht Grundlage für die Ermessensausübung der Einspruchsabteilung in Bezug auf Anträge sein könne, siehe jedoch T 755/96, T 281/99, T 688/16, T 754/16.
In T 755/96 befand die Kammer, die Befugnis der Einspruchsabteilung, verspätet vorgebrachte neue Tatsachen oder Beweismittel zuzulassen oder zurückzuweisen, sei in Art. 114 (2) EPÜ 1973 und das Ermessen, neue Änderungsanträge zurückzuweisen, in Art. 123 EPÜ 1973 und den entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung, d. h. R. 57a EPÜ 1973 (R. 80 EPÜ) geregelt (s. auch T 1903/13, in der Art. 123 (1) EPÜ als Rechtsgrundlage für das Ermessen der Kammern in Einspruchsbeschwerdeverfahren betrachtet wird). In mehreren neueren Entscheidungen wurde gleichfalls Art. 123 EPÜ (wenn auch in Verbindung mit R. 79 (1) und 81 (3) EPÜ) als Rechtsgrundlage für dieses Ermessen erachtet, nämlich T 966/17, R 6/19 und T 256/19 (in J 14/19 wird Art. 123 (1) EPÜ als zusätzliche Rechtsgrundlage neben Art. 114 (2) EPÜ angesehen).
In T 966/17 befand die Kammer, dass sich das Ermessen der Einspruchsabteilung, geänderte Anträge zum Verfahren zuzulassen, grundsätzlich aus Art. 123 (1) EPÜ (erster Satz) in Verbindung mit R. 79 (1) und 81 (3) EPÜ ergibt, und begründete dies wie folgt: Nach Art. 123 (1) EPÜ kann die europäische Patentanmeldung oder das europäische Patent im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt nach Maßgabe der Ausführungsordnung geändert werden. R. 79 (1) EPÜ eröffnet im Einspruchsverfahren dem Patentinhaber die Möglichkeit, innerhalb einer von der Einspruchsabteilung gesetzten Frist die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen zu ändern. Die Zulassung späterer Änderungen steht dagegen im Ermessen der Einspruchsabteilung, wie sich etwa aus R. 81 (3) EPÜ ("wird gegebenenfalls Gelegenheit gegeben") erkennen lässt.
In R 6/19 betrachtete die Große Beschwerdekammer Art. 123 (1) EPÜ als Grundlage für das Ermessen einer Einspruchsabteilung, Anträge zuzulassen oder zurückzuweisen. Bei ihrer Analyse des Wortlauts dieses Artikels stellte sie fest, dass im ersten Satz die generelle Möglichkeit genannt werde, Patentanmeldungen und Patente zu ändern, allerdings nur nach Maßgabe der Ausführungsordnung (R. 81 (3) EPÜ für das Einspruchsverfahren). Weiter bemerkte sie, dass der zweite Satz von Art. 123 (1) EPÜ dem Anmelder ausdrücklich das Recht einräume, mindestens einmal Gelegenheit zu erhalten, die Anmeldung zu ändern. Würde Art. 123 (1) Satz 1 EPÜ bedeuten, dass der Patentinhaber oder Anmelder immer das Recht hätte, sein Patent oder seine Anmeldung zu ändern, wäre Art. 123 (1) Satz 2 EPÜ redundant. Das in Art. 123 (1) Satz 2 EPÜ verankerte Recht auf mindestens eine Gelegenheit zur Änderung erstrecke sich nicht auf einen Patentinhaber im Einspruchsverfahren; hier werde der Einspruchsabteilung durch Art. 123 (1) Satz 2 EPÜ das Ermessen eingeräumt, derartige Anträge zurückzuweisen. In einem solchen Verfahren werde eine Gelegenheit zur Änderung nur soweit erforderlich gegeben (R. 81 (3) EPÜ). Die Große Beschwerdekammer erkannte keine Notwendigkeit, die Frage zu beantworten, ob auch Art. 114 (2) EPÜ eine Grundlage für die Zurückweisung von Anträgen darstelle.