1.7.2 Standards für die Prüfung offenbarter und nicht offenbarter Disclaimer
In der Rechtsprechung, die diesen Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer folgte, gab es keinen einheitlichen Ansatz hinsichtlich der Anwendung von G 2/10 auf "nicht offenbarte Disclaimer" (s. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 8. Aufl. 2016, II.E.1.5.2 b) und die Zusammenfassung in G 1/16, Nr. 24 der Gründe). Dies führte zur Vorlageentscheidung T 437/14 vom 17. Oktober 2016 date:2016-10-17, in der insbesondere gefragt wurde, ob der in G 2/10 genannte Standard für die Zulässigkeit offenbarter Disclaimer gemäß Art. 123 (2) EPÜ, d. h. der Test, ob der Fachmann den nach der Aufnahme des Disclaimers im Patentanspruch verbleibenden Gegenstand unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens als explizit oder implizit, aber unmittelbar und eindeutig in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbart ansehen würde, auch auf Ansprüche anzuwenden ist, die nicht offenbarte Disclaimer enthalten.
In G 1/16 (ABl. 2018, A70) befand die Große Beschwerdekammer, dass die Wahl des richtigen Tests zur Beurteilung der Zulässigkeit eines Disclaimers dadurch bestimmt wird, dass sich offenbarte und nicht offenbarte Disclaimer in ihrer Rechtsnatur grundlegend voneinander unterscheiden. Diese Unterscheidung macht für jede der beiden Klassen von Disclaimern jeweils einen einzigen spezifischen Test erforderlich, um zu beurteilen, ob die Aufnahme eines bestimmten Disclaimers mit Art. 123 (2) EPÜ konform ist. Bei nicht offenbarten Disclaimern besteht somit der richtige Test in der Frage, ob die Kriterien gemäß G 1/03 (ABl. 2004, 413) erfüllt sind, während bei offenbarten Disclaimern der richtige Test der Goldstandardtest nach G 2/10 (ABl. 2012, 376) ist.
Ob eine Anspruchsänderung durch einen nicht offenbarten Disclaimer zulässig ist, ist ausschließlich nach den in G 1/03 festgelegten Kriterien zu beurteilen. Die Kriterien aus G 1/03 dürfen nicht verändert und nicht durch darüber hinausgehende Bedingungen eingeschränkt werden.
Die Große Beschwerdekammer bestätigte, dass eine Änderung durch einen nicht offenbarten Disclaimer in den drei in G 1/03 (Nr. 2.1 der Entscheidungsformel) genannten Fällen zulässig sein kann, nämlich um (1) die Neuheit wiederherzustellen, indem der Disclaimer einen Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ abgrenzt; (2) die Neuheit wiederherzustellen, indem der Disclaimer einen Anspruch gegenüber einer zufälligen Vorwegnahme nach Art. 54 (2) EPÜ abgrenzt; oder (3) einen Gegenstand auszuklammern, der nach den Art. 52 bis 57 EPÜ aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
Zudem darf der nicht offenbarte Disclaimer nicht mit der erfindungsgemäßen Lehre in Zusammenhang stehen, wie bereits in G 1/03 festgestellt wurde (Nr. 2.3 der Entscheidungsformel; Nr. 2.6 der Gründe). Ihre Bestätigung dieses Konzepts erläuterte die Große Beschwerdekammer mit den folgenden Ausführungen:
Die richtige Frage in diesem Kontext lautet nicht, ob ein nicht offenbarter Disclaimer die ursprüngliche technische Lehre quantitativ beschränkt – was unweigerlich der Fall ist –, sondern ob er sie qualitativ dahin gehend ändert, dass sich die Position des Anmelders oder des Patentinhabers in Bezug auf andere Patentierbarkeitserfordernisse verbessert. Wenn dies zutrifft, wurde die ursprüngliche technische Lehre durch die Aufnahme des Disclaimers in unzulässiger Weise verändert. Folglich kann die technische Lehre auf der Grundlage des geänderten Anspruchs, d. h. des verbleibenden Gegenstands ohne den Disclaimer, nicht mehr als Teil der Erfindung betrachtet werden, wie sie in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung dargelegt war.
Der Vollständigkeit halber fügte die Große Beschwerdekammer hinzu, dass das Verbot einer qualitativen Veränderung der ursprünglichen Lehre absolut gilt, d. h. nicht nur in Bezug auf den Stand der Technik, der die Grundlage für den nicht offenbarten Disclaimer bildet, sondern auch in Bezug auf den gesamten Stand der Technik, der für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevant ist. Praktisch bedeutet dies, dass die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wie in T 710/92 ohne Berücksichtigung des nicht offenbarten Disclaimers erfolgen muss. So wird vermieden, dass die ursprüngliche technische Lehre bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit in unzulässiger Weise verändert wird.
Die Große Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass die Aufnahme eines nicht offenbarten Disclaimers eines der in Nummer 2.1 der Entscheidungsformel von G 1/03 genannten Kriterien erfüllen muss, aber keinen technischen Beitrag zum beanspruchten Gegenstand der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung leisten darf; mit anderen Worten darf die Identität der ursprünglich eingereichten Erfindung durch den nach Aufnahme des nicht offenbarten Disclaimers im Patentanspruch verbleibenden Gegenstand nicht verändert werden.
Die Große Beschwerdekammer beantwortete die ihr vorgelegten Fragen wie folgt:
Bei der Klärung der Frage, ob ein durch die Aufnahme eines nicht offenbarten Disclaimers geänderter Anspruch nach Art. 123 (2) EPÜ zulässig ist, kommt es darauf an, dass der Disclaimer eines der in Nummer 2.1 der Entscheidungsformel von G 1/03 genannten Kriterien erfüllt.
Die Aufnahme eines solchen Disclaimers darf keinen technischen Beitrag zu dem in der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbarten Gegenstand leisten. Insbesondere darf der Disclaimer nicht für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant sein oder werden. Der Disclaimer darf nicht mehr ausschließen, als nötig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder einen Gegenstand auszuklammern, der aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.