5.5.4 Sorgfaltspflicht beim Einsatz von Hilfspersonen
In J 25/96 wurde der Wiedereinsetzungsantrag unter anderem damit begründet, dass die Fristversäumnis von der für die Fristenüberwachung zuständigen Angestellten verschuldet worden sei. In der Entscheidung wurde festgestellt, dass die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach ein Vertreter die Fristenüberwachung entsprechend qualifiziertem und überwachtem Personal übertragen darf, für Routinearbeiten und gewöhnliche Fälle entwickelt worden ist. Dies bedeute jedoch nicht, dass ein Vertreter es solchen Hilfspersonen ganz überlassen darf, Fälle zu überwachen, i) die besonders dringend sind, ii) die besondere Aufmerksamkeit benötigen und bei denen weitere Maßnahmen durch den Vertreter selbst durchzuführen sind, um zu gewährleisten, dass die erforderlichen Handlungen noch rechtzeitig vorgenommen werden, und iii) bei denen ein Fehler oder eine Verzögerung zu einem unwiderruflichen Rechtsverlust führen kann.
In T 719/03 akzeptierte die Kammer das Argument des Beschwerdeführers nicht, die Frist sei durch ein einmaliges Versehen der qualifizierten Sekretärin versäumt worden, die lediglich die Beschwerdefrist, nicht jedoch die Beschwerdebegründungsfrist auf dem Deckblatt der Widerrufsentscheidung notiert habe. Die Kammer legte vielmehr dem Vertreter des Beschwerdeführers selbst eine Sorgfaltspflichtverletzung zur Last, da diesem die angefochtene Entscheidung zweimal vorgelegt worden sei, ohne dass ihm die unvollständige Notierung der unbedingt einzuhaltenden und zu überwachenden Frist aufgefallen sei. Die Kammer vertrat die Ansicht, dass bei sorgfältiger Handhabung einer Akte, in der es um die Wahrung gesetzlicher Fristen gehe, ein Vertreter so oft mit den zu beachtenden Fristen konfrontiert werde, dass eine Einhaltung der Frist gewährleistet sei.
In T 439/06 (ABl. 2007, 491) betonte die Kammer, dass die Erfüllung der Anforderungen an die richtige Auswahl, Unterweisung und Überwachung der Angestellten lediglich bedeutet, dass der Fehler des Angestellten bei der Ausführung der ihm übertragenen Aufgabe nicht dem Vertreter zur Last gelegt werden kann. Es folgt daraus nicht, dass sich die Verantwortung des Vertreters in der richtigen Auswahl, Unterweisung und Überwachung des Angestellten erschöpft und sich jede weitere Sorgfalt in Bezug auf die delegierte Aufgabe erübrigt (s. auch T 1149/11). Sobald die Akte dem Vertreter zur Bearbeitung vorgelegt wird, damit er fristgerecht tätig werden kann, geht die Verantwortung in jeder Hinsicht auf ihn über. Die gebotene Sorgfalt erfordert es unter diesen Umständen, dass der Vertreter die von seiner Verwaltungsabteilung berechnete Frist noch einmal überprüft, wenn ihm die Akte zur Bearbeitung vorgelegt wird. Er kann sich nicht einfach darauf verlassen, dass er diese Aufgabe ein für alle Mal seiner Verwaltungsabteilung übertragen hat (vgl. auch J 1/07, T 719/03, T 473/07).
Auch nach Auffassung der Kammer in T 1561/05 fällt dem zugelassenen Vertreter bei der Unterzeichnung der Beschwerdebegründung persönlich zur Last, dass er die Fristberechnung seines Hilfspersonals nicht überprüft und damit die Falschberechnung der Frist nicht bemerkt hat. Was, wie die Endkontrolle bei der Unterzeichnung eines fristgebundenen Schriftsatzes, in seinen ureigensten Aufgabenbereich fällt, kann er nicht mit befreiender Wirkung delegieren.
In T 1095/06 stellte die Kammer Folgendes fest: Unterlaufe dem Vertreter ein Versäumnis, weil er durch einen Fehler eines sorgfältig ausgewählten und ausgebildeten und angemessen überwachten Mitarbeiters keine Erinnerung erhalten hat, so könne dies als "einmaliges Versehen in einem ansonsten gut funktionierenden System" angesehen und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Jedoch sei von einem zugelassenen Vertreter zu erwarten, dass er seine eigene Arbeit laufend überwacht. Über ein Versäumnis des zugelassenen Vertreters selbst könne nicht mit Verweis auf die Rechtsprechung bezüglich eines "einmaligen Versehens in einem ansonsten gut funktionierenden Systems" hinweggesehen werden, es sei denn, besondere Umstände liegen vor, unter denen das Versäumnis entstanden sei, obwohl alle gebotene Sorgfalt beachtet worden sei.
In T 592/11 entschied die Kammer, dass der Vertreter bei einer von ihm und einer Hilfsperson durchgeführten Doppelkontrolle für sein Verschulden betreffend die von ihm übernommene Kontrolle haftet. Dies ergibt sich daraus, dass im Fall einer Doppelkontrolle, die ausschließlich von Hilfspersonen durchgeführt wird, der Vertreter eine zusätzliche Drittkontrolle durchzuführen hat (s. T 439/06, T 1561/05). Wenn die Doppelkontrolle von einer Hilfsperson und dem Vertreter selbst durchgeführt wird, muss aber derselbe Sorgfaltsmaßstab für diejenige der beiden Fristkontrollen, die der Vertreter selbst durchzuführen hat, gelten. Ein einmaliges Versehen eines zugelassenen Vertreters in Bezug auf seine Kontrolle ist dann – jedenfalls grundsätzlich – nicht entschuldbar.
In R 18/13 verwies der Antragsteller auf zwei "einmalige" Versehen, eines begangen durch seine Assistentin und ein anderes durch den zugelassenen Vertreter. Die Große Beschwerdekammer konsultierte die Travaux préparatoires und stellte fest, dass ein "einmaliges Versehen" – wie für die Hilfspersonen – nicht auf den Vertreter übertragen werden kann. Wird dem Vertreter eine Akte zur Bearbeitung vorgelegt, kann er sich nicht darauf verlassen, dass sein Hilfspersonal bisher allen ihm übertragenen Pflichten in zuverlässiger Weise genügt hat. Vielmehr ist er verpflichtet, mit entsprechenden Kontrollmechanismen vor der Übergabe einer Akte dafür zu sorgen, dass die laufenden Fristen eingehalten werden, bzw. spätestens, wenn ihm die Akte zur Bearbeitung übergeben wird, selbst die Überprüfung einer allfällig einzuhaltenden Frist vorzunehmen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung wurde zurückgewiesen.
In T 600/18 stellte die Kammer fest, dass durch Art. 122 EPÜ und die einschlägige Rechtsprechung (mit Bezug auf T 1095/06, T 592/11, R 18/13) Fehler des Vertreters nicht entschuldigt werden, auch wenn der Vertreter die Aufgabe der Gebührenzahlung in der Regel nicht selbst wahrnimmt.