4.1.1 Frist von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses
In mehreren Entscheidungen befassten sich die Kammern mit der Frage, wer der Verantwortliche ist, der das Versäumnis erkannt haben muss oder hätte erkennen müssen.
In T 812/04 stellte die Kammer fest, dass die Person, auf die für die Ermittlung des Zeitpunkts abzustellen ist, ab dem der Beschwerdeführer nicht mehr verhindert war, die versäumte Handlung vorzunehmen, der ordnungsgemäß bestellte Vertreter sei.
In T 32/04 befand die Kammer, dass bei Fehlen einer ordnungsgemäßen Eintragung des Rechtsübergangs der Anmeldung aus der Sicht des EPA nach wie vor der Anmelder oder sein Vertreter für die Anmeldung verantwortlich sei. Daher sei eine nicht eingetragene Übertragung der Anmeldung an Dritte "res inter alios acta", d. h. für das Rechtsverhältnis zwischen dem Anmelder und dem EPA nicht von Bedeutung.
Wie die Kammer in T 191/82 date: 1985-04-16 (ABl. 1985, 189) feststellte, kann in einem Fall, bei dem ein Fristversäumnis von einem Angestellten eines Vertreters festgestellt wird, das Hindernis (d. h. die Unkenntnis darüber, dass die Frist nicht eingehalten wurde) erst dann als weggefallen gelten, wenn der betreffende Vertreter selbst von der Sachlage Kenntnis erhalten hat, da ihm die Entscheidung darüber vorbehalten bleiben muss, ob ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden soll und welche Begründung und Beweismittel dem EPA dabei vorzulegen sind (vgl. auch J 7/82, ABl. 1982, 391; J 9/86; T 381/93 vom 12. August 1994 date: 1994-08-12).
In J 1/13 war die Juristische Kammer der Auffassung, dass in einer Rechts- oder Patentanwaltskanzlei die zuständige Person der Vertreter und nicht sein Angestellter ist (T 191/82 date: 1985-04-16); der Vertreter kann jedoch die Frist gemäß R. 136 (1) EPÜ nicht nach Belieben verlängern, indem er bewusst uninformiert bleibt (s. T 1985/11, wo es die Kammer für irrelevant befand, dass der Vertreter das Schreiben bei der Bestätigung des Eingangs nicht gelesen hatte). Obwohl es in den meisten den Wegfall des Hindernisses betreffenden Fällen um den Zeitpunkt geht, an dem der Vertreter den Fehler entdeckt hat (oder hätte entdecken müssen), stellte die Juristische Kammer fest, dass auch anerkannt wurde, dass die Person, deren Wissen relevant ist, auch der Anmelder selbst sein kann (s. J 27/88; J 27/90, ABl. 1993, 422; T 840/94, ABl. 1996, 680; T 32/04).
In T 840/94 (ABl. 1996, 680) stellte die Kammer fest, dass, wenn ein Beteiligter den bevollmächtigten Vertreter anweise, weitere Mitteilungen des EPA nicht weiterzuleiten, er sich nicht darauf berufen könne, ihm hätten dem Vertreter zugestellte und für die Fortsetzung des Verfahrens erforderliche Informationen gefehlt. S. auch T 1908/09.
In T 1588/15 wich die Kammer vom Ansatz in der Sache J 1/13 ab. Die Kammer sah keinen triftigen Grund, warum der Vertreter uninformiert war und im Wissen (oder Glauben), uninformiert zu sein, nicht sofort gehandelt hat. Sie befand, dass ein Anmelder eine spezifische Pflicht habe, seinen Vertreter ausdrücklich über den beabsichtigten Verzicht auf eine Anmeldung zu unterrichten. Die Kammer stellte fest, dass auch wenn der Vertreter ausdrücklich nicht für die Gebührenzahlung zuständig ist, von ihm zumindest erwartet werden kann, dass er stets weiß, ob eine Anmeldung aufrechterhalten werden soll oder nicht. Sie entschied, dass der Eingang der Feststellung eines Rechtsverlusts beim Vertreter die in R. 136 (1) EPÜ vorgesehene Zweimonatsfrist auslöste.
In J 27/88 vertrat die Juristische Kammer die Auffassung, im vorliegenden Fall sei weder der Beschwerdeführer noch der europäische Vertreter der Verantwortliche, sondern der amerikanische Patentvertreter, der der bevollmächtigte Vertreter des Beschwerdeführers und befugt sei, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Der Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses sei der Tag, an dem der amerikanische Patentvertreter das Versäumnis erkannt habe.
In J 27/90 (ABl. 1993, 422) hatte der Anmelder, eine amerikanische Firma, ordnungsgemäß einen europäischen zugelassenen Vertreter bestellt. Mit der Entrichtung der Jahresgebühren betraute sie ein mit EDV arbeitendes Dienstleistungsunternehmen, eine sog. Gebührenabwicklungsfirma. Die Juristische Kammer vertrat die Auffassung, dass eine Mitteilung nach R. 69 (1) EPÜ 1973, die an den bestellten Vertreter gerichtet ist, den Wegfall des Hindernisses bewirkt, sofern die Umstände nicht dagegen sprechen. Dies gilt auch, wenn eine Partei ihrem (europäischen) zugelassenen Vertreter Anweisungen über ihren (nationalen) Patentvertreter erteilt. Die Einschaltung eines unabhängigen Dienstleistungsunternehmens für die Entrichtung von Jahresgebühren stellt keinen Umstand dar, der dagegen spricht.
In T 1908/09 wies die Kammer darauf hin, dass bei mehr als einem Anmelder die Anmelder einen gemeinsamen Vertreter bestellen müssen (Art. 133 (4) und R. 151 (1) EPÜ). Wenn sie dies nicht tun und einer der Anmelder nach Art. 133 (2) EPÜ verpflichtet ist, einen zugelassenen Vertreter zu bestellen, gilt dieser als gemeinsamer Vertreter. Im vorliegenden Fall wurden mit der Zustellung der Mitteilung über den Rechtsverlust (R. 126 (2) EPÜ) an den gemeinsamen Vertreter (R. 130 (3) EPÜ) beide Anmelder davon unterrichtet, dass die Frist abgelaufen ist.
In J 16/93 befand die Juristische Kammer, dass die Ursache der Nichteinhaltung einer Frist unter außergewöhnlichen Umständen fortbestehen könne, selbst wenn die Vertreter des Anmelders über den daraus resultierenden Rechtsverlust ordnungsgemäß unterrichtet waren. Dies ist der Fall, wenn es – aufgrund einer Kombination von Umständen, die weder dem Anmelder noch seinem Vertreter angelastet werden können und die insbesondere dadurch bedingt sind, dass beide umgezogen sind und ein Direktor des Unternehmens, das das europäische Patent angemeldet hatte, krank war – den zugelassenen Vertretern unmöglich war, sich rechtzeitig mit dem Anmelder in Verbindung zu setzen. Diese Kombination von Umständen hinderte die Vertreter an der Ausführung der versäumten Handlung, d. h. an der Entrichtung der Jahresgebühren für das dritte Jahr, weil sie keinen Vorschuss erhalten hatten. Von einem Vertreter, dessen Vollmacht diesbezüglich nichts vorsieht und der keine Geldmittel für diesen Zweck erhalten hat, kann nicht erwartet werden, dass er für seinen Mandanten Geld aus der eigenen Tasche vorstreckt.