1.4.4 Wesentlichkeits- oder Dreipunkte-Test
In T 331/87 (ABl. 1991, 22) erläuterte die Kammer aufbauend auf T 260/85 (ABl. 1989, 105) einen Dreipunkte-Test. Sie stellte fest, dass das Ersetzen oder Streichen eines Merkmals aus einem Anspruch nicht gegen Art. 123 (2) EPÜ 1973 verstoße, sofern der Fachmann unmittelbar und eindeutig erkennen würde, dass erstens das Merkmal in der Offenbarung nicht als wesentlich hingestellt worden sei, zweitens es als solches für die Funktion der Erfindung unter Berücksichtigung der technischen Aufgabe, die sie lösen solle, nicht unerlässlich sei und drittens das Ersetzen oder Streichen keine wesentliche Angleichung anderer Merkmale erfordere (bis 2012 häufig angewandt, s. z. B. T 708/07, T 775/07, T 2359/09, T 747/10; in jüngerer Zeit angewandt in T 1906/12). Dieser Test wird manchmal auch als Wesentlichkeitstest bezeichnet (s. z. B. T 2359/09, T 2599/12, T 2489/13). Zu beachten ist, dass die Richtlinien in H‑V, 3.1 – Stand März 2022 einen geänderten Dreipunkte-Test enthalten.
Die Kammer stellte in T 404/03 fest: Betrachtet man die Offenbarung – nicht den Schutzumfang – einer Gruppe von Merkmalen, so geht sowohl das Verallgemeinern eines Merkmals in einem Anspruch als auch das Isolieren von Merkmalen aus Ausführungsformen der Beschreibung im Wesentlichen damit einher, dass Merkmale gestrichen werden, nämlich im einen Fall das spezifische Merkmal und im anderen die übrigen Merkmale der Ausführungsform. Nach Auffassung der Kammer sind diese Fälle daher denselben Kriterien zu unterwerfen wie reine Streichungen, im Prinzip also dem Dreipunkte-Test. Dieser Test verlangt keine spezifische Erklärung oder Anregung in der ursprünglichen Offenbarung und ist für den Anmelder großzügiger, weil er die Streichung eines Merkmals im Wesentlichen erlaubt, wenn der Fachmann aufgrund des allgemeinen Fachwissens auf dem betreffenden Gebiet erkennen würde, dass das Merkmal nichts mit der Erfindung zu tun hat. Im Hinblick auf die Gewährbarkeit von Änderungen nach Art. 123 (2) EPÜ 1973 sollte zwischen dem Fall der Streichung und dem Fall der Hinzufügung von Merkmalen unterschieden werden, da im ersteren Fall lediglich ursprünglich offenbarte Elemente entfernt werden, die somit vom Fachmann als für die Erfindung unwesentlich angesehen werden können, während im letzteren Fall neue Elemente hinzugefügt werden, für die in der ursprünglichen Offenbarung jede Grundlage fehlt.
In T 2300/12 stellte die Kammer fest, dass es beim Wesentlichkeitstest darum geht zu prüfen, ob das Ersetzen oder Streichen eines Merkmals in einem ursprünglich eingereichten unabhängigen Anspruch eine Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung darstellt. Im vorliegenden Fall betraf der erteilte Anspruch ein Verfahren; der ursprünglich eingereichte Anspruchssatz enthielt jedoch überhaupt keinen Verfahrensanspruch. Schon aus diesem Grund war der Wesentlichkeitstest im vorliegenden Fall bei der Prüfung nicht direkt anwendbar.