H. Auslegung des EPÜ
Nach der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in R 19/12 vom 25. April 2014 date: 2014-04-25 wurde in G 1/05 date: 2006-12-07 (ABl. 2007, 362) und G 2/08 vom 15. Juni 2009 date: 2009-06-15 anerkannt, dass der Maßstab des Art. 6 EMRK für die Verfahren vor den Beschwerdekammern verbindlich ist, weil er auf Rechtsgrundsätzen beruht, die allen Mitgliedstaaten der Europäischen Patentorganisation gemeinsam sind und für alle ihre Organe gelten (s. auch D 11/91 vom 14. September 1994 date: 1994-09-14 und Kapitel III.J.1.3. "Die Europäische Menschenrechtskonvention"). Daher sei es gerechtfertigt, sowohl nationale Rechtsprechung als auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergänzend zur Auslegung des EPÜ heranzuziehen.
In T 1243/17 stellte die Kammer fest, dass Art. 6 (1) EMRK von den Beschwerdekammern insbesondere in Zusammenhang mit Art. 125 EPÜ als ein für die Entscheidungen nach dem EPÜ relevanter Indikator für die in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Verfahrensgrundsätze erachtet wurde (s. T 261/88 date: 1991-03-28, ABl. 1992, 627, G 1/05 date: 2006-12-07, ABl. 2007, 362, und G 2/08 date: 2009-06-15). Wenn Art. 6 (1) EMRK in den Verfahren vor dem EPA angewandt wird, muss dieser Artikel daher vom EPA und seinen Beschwerdekammern ausgelegt werden. Insbesondere haben diese zu entscheiden, ob die "angemessene Frist" in Art. 6 (1) EMRK eingehalten wird oder nicht. Die Kammer wertete die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus. Sie war nicht davon überzeugt, dass diese Rechtsprechung den Schluss zulässt, die Dauer des Prüfungsverfahrens vor dem EPA sei systematisch zu berücksichtigen, wenn die Angemessenheit der Verfahrensdauer beurteilt wird. Trotzdem seien die vom EGMR entwickelten Grundsätze zur Verfahrensdauer ein nützlicher Rahmen für die Beurteilung der Länge des Verfahrens. Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem angeblichen Verstoß gegen Art. 6 (1) EMRK keinen konkreten Antrag formuliert. Siehe auch den ähnlichen Fall T 2805/19.
Nach T 1787/16 sind gemäß Art. 125 EPÜ, soweit das EPÜ keine Vorschriften über das Verfahren enthält, die in den Vertragsstaaten der Europäischen Patentorganisation im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts heranzuziehen. Dies gilt insbesondere für den in Art. 6(1) EMRK exemplarisch zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgrundsatz des fairen Verfahrens, der als allgemeine Richtschnur für die Verfahrensgestaltung dient. Dazu zählt auch das Gebot, die Entscheidung so abzufassen, dass sie von einer der Verfahrenssprache mächtigen Partei verstanden werden kann.
In T 844/18 behauptete der Beschwerdeführer, die gängige Auslegung durch das EPA verletze das Recht des Inhabers auf Achtung seines Eigentums. Sie könne sogar den Verlust eines anderen Schutzrechts, nämlich des Patents, zur Folge haben, wenn zwischenzeitlich neuheitsschädlicher Stand der Technik entstehe. Die Kammer wertete dieses Vorbringen als Zirkelschluss und ging deshalb nicht ausdrücklich auf den angeblichen Verstoß gegen Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK ein (Nr. 51 der Gründe).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”