2.4. Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten, Ausführungen und Beweismittel
Nach T 1536/08 ist in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (s. z. B. J 7/82, T 94/84 und T 135/96) anerkannt, dass das in Art. 113 (1) EPÜ verankerte rechtliche Gehör auch das Recht garantiert, dass Gründe, die sich auf den Ausgang des Verfahrens auswirken können, in der schriftlichen Entscheidung berücksichtigt werden. Eine den Einspruch zurückweisende Entscheidung muss daher die vorgebrachten Einspruchsgründe ebenso wie die zu ihrer Stützung vorgebrachten Tatsachen und Beweise einschließlich der zitierten Dokumente aus dem Stand der Technik berücksichtigten. Die Nichtberücksichtigung von Beweisen stellt in der Regel eine wesentliche Verletzung dieses grundlegenden Verfahrensrechts dar, da dem Beteiligten das Recht auf eine vollständige Prüfung seines Vorbringens vorenthalten wird (s. auch T 1098/07). Im vorliegenden Fall hatte die Einspruchsabteilung das unmissverständliche Angebot des Einsprechenden in der Einspruchsschrift, die gedruckten Originalversionen von entscheidenden Dokumenten aus dem Stand der Technik vorzulegen, völlig außer Acht gelassen. Die Nichtberücksichtigung seines Angebots stellte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.
In T 1110/03 (ABl. 2005, 302) urteilte die Kammer, dass in Art. 117 (1) EPÜ und Art. 113 (1) EPÜ ein grundlegendes, in den Vertragsstaaten allgemein anerkanntes Verfahrensrecht verankert ist, nämlich das Recht, Beweise in geeigneter Form anzubieten, insbesondere durch Vorlegung von Urkunden (Art. 117 (1) c) EPÜ), wie auch das Recht, dass diese Beweise berücksichtigt werden. Siehe auch T 2294/12, wo einer der Beschwerdeführer in der schriftlichen Phase zwei Reihen von Vergleichsversuchen eingereicht hatte; mit Verweis auf das Recht der Erbringung geeigneter Beweise, wie in T 1110/03 dargelegt, entschied die Kammer, dass die Prüfungsabteilung den Beschwerdeführern das rechtliche Gehör nicht gewährt hatte, weil die angefochtene Entscheidung keine Begründung dafür enthielt, warum die Abteilung die erste Reihe als nicht relevant erachtete, und die zweite Reihe nicht einmal genannt wurde.
In T 1098/07 entschied die Kammer, dass die unterlassene Berücksichtigung von Beweismitteln in der Regel insofern einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt, als ein Beteiligter dadurch der in den Art. 117 (1) und 113 (1) EPÜ verankerten fundamentalen Rechte beraubt wird. Nach Auffassung der Kammer könnte die Schwere des Mangels aber durch verschiedene Faktoren gemildert werden. Ob die Tatsache, dass von einem Beteiligten zur Stützung seines Vorbringens vorgelegte Unterlagen in einer Entscheidung nicht ausdrücklich genannt wurden, einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt oder nicht, ist also vom (prima facie) Stellen- und Beweiswert dieser Unterlagen abhängig. Folgende Fragen sind zu beantworten: Welche Sachverhalte sollen nachgewiesen werden, wie relevant sind die Unterlagen für diese Sachverhalte und mit welcher Wahrscheinlichkeit kann der Nachweis erbracht werden? Im vorliegenden Fall war die Nichtberücksichtigung des Beweismittels daher ein entschuldbarer Fehler, der den Beschwerdeführer nicht seiner fundamentalen Rechte beraubt hatte.
In T 21/09 stellte die Kammer fest, dass die Einspruchsabteilung entweder i) die vom Beschwerdeführer vorgelegten Versuchsdaten als verspätet eingereicht nicht berücksichtigt hat oder ii) die Daten berücksichtigt, aber nicht ausreichend begründet hat, warum sie die behauptete technische Wirkung nicht stützten. Im ersten Fall wäre der Patentinhaber nicht zur Zulassung der Beweismittel gehört worden, und zudem sei in der Entscheidung nichts davon erwähnt. Im zweiten Fall würde die angefochtene Entscheidung einen schwerwiegenden Mangel in der Begründung aufweisen, die die Einspruchsabteilung für ihre negative Feststellung zur erfinderischen Tätigkeit gegeben hatte. In beiden Fällen könne die Entscheidung nicht als konform mit R. 111 (2) EPÜ betrachtet werden.
In T 2415/09 machte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) geltend, dass die vom Beschwerdegegner eingereichten neuen Dokumente und Versuche seien ihm erst sechs Wochen vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung übermittelt worden. Die Kammer stellte fest, dass sie nicht darüber befinden könne, wie viel Zeit genau für die Durchführung von Vergleichsversuchen erforderlich sei. Auch wenn die in R. 132 (2) EPÜ gennannten Fristen vorliegend nicht anwendbar seien (R. 116 (1) EPÜ), machten sie doch deutlich, dass von einem Beteiligten nicht verlangt werden könne, Vergleichsversuche innerhalb von nur sechs Wochen vorzulegen. Die Kammer entschied daher, dass die Einspruchsabteilung dadurch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt habe.
In T 94/84 (ABl. 1986, 337) stellte die Kammer fest, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör die Bereitschaft garantiert, das Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen. Er sei verletzt worden, weil die Annahme einer später eingereichten Übersetzung einer fristgerecht genannten japanischen Druckschrift in eine Amtssprache des EPA verweigert worden war.
In T 2541/11 brachte der Beschwerdeführer (Einsprechende) vor, dass die Nichtzulassung eines Dokuments ohne ausführliche Diskussion über dessen Relevanz sein rechtliches Gehör verletze. Die Kammer erklärte, dass ein Recht darauf, alle Argumente vorzubringen, als wäre das Dokument zugelassen worden, und nicht nur Argumente hinsichtlich der Zulässigkeit, de facto einer Zulassung des Dokuments gleichkäme, was entgegen Art. 114 (2) EPÜ implizieren würde, dass die Kammer kein Ermessen hat, ein verspätet eingereichtes Dokument unberücksichtigt zu lassen. Der Kammer zufolge ist das Recht, sich zu äußern, kein absolutes Recht, sondern muss unter anderem gegen das Gebot der Verfahrensökonomie und der Sorgfalt abgewogen werden, das dem Art. 114 (2) EPÜ zugrunde liegt, und dieser stellt es in das Ermessen der Kammer, verspätet vorgebrachte Beweismittel nicht zu berücksichtigen.
S. auch Kapitel III.G.3.3. "Rechtliches Gehör".