7.2. Zweite (bzw. weitere) medizinische Verwendung
In T 1780/12 setzte sich die Kammer im Zusammenhang mit einer etwaigen Doppelpatentierung mit der Frage auseinander, ob der Gegenstand eines Anspruchs auf eine neue medizinische Verwendung einer bekannten Verbindung derselbe ist, ganz gleich, ob der Anspruch in der schweizerischen Anspruchsform oder gemäß Art. 54 (5) EPÜ abgefasst ist. Gegenstand der Entscheidung war eine Teilanmeldung, deren Hauptanspruch als zweckgebundener Erzeugnisanspruch nach Art. 54 (5) EPÜ abgefasst war. Anspruch 1 der Stammanmeldung war in der schweizerischen Anspruchsform erteilt worden. Nach Auffassung der Prüfungsabteilung waren die Ansprüche der Stamm- und der Teilanmeldung auf denselben Gegenstand gerichtet, denn "beide Ansprüche betreffen in unterschiedlicher Form dieselbe Erfindung". Sie wies die Anmeldung unter Hinweis auf das Verbot der Doppelpatentierung zurück. Die Kammer sah eine Doppelpatentierung als nicht gegeben an. Entscheidend sei, ob die Ansprüche des auf die Teilanmeldung erteilten Patents und die Ansprüche des auf die Stammanmeldung erteilten Patents denselben Gegenstand hätten. Die Anspruchskategorie und die technischen Merkmale definieren den Anspruchsgegenstand und bestimmen den Schutzbereich (s. G 2/88, ABl. 1990, 93). Die fraglichen Ansprüche gehörten unterschiedlichen Kategorien an: schweizerische Ansprüche sind zweckgebundene Verfahrensansprüche (Verwendung von X zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung von Y), wohingegen nach Art. 54 (5) EPÜ abgefasste Ansprüche zweckgebundene Erzeugnisansprüche sind (X zur Verwendung in der Behandlung von Y). Zu den technischen Merkmalen stellte die Kammer fest, dass beide Anspruchssätze zwar dieselbe Verbindung und dieselbe therapeutische Verwendung definierten, die schweizerischen Ansprüche im Gegensatz zu dem Anspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ aber zusätzlich das Merkmal der Herstellung eines Arzneimittels umfassten. Damit war der beanspruchte Gegenstand jeweils ein anderer. Dieses Ergebnis wurde in der Entscheidung (T 879/12) bestätigt. Zum Schutzbereich verwies die Kammer darauf, dass ein zweckgebundener Verfahrensanspruch (wie ein schweizerischer Anspruch) einen kleineren Schutzbereich als ein zweckgebundener Erzeugnisanspruch, wie ein Anspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ hat (s. auch T 13/14, näheres zur Doppelpatentierung s. Kapitel II.F.5. "Doppelpatentierung").
Auch in T 1570/09 enthielt der Anspruchssatz des Hauptantrags zwei unabhängige Ansprüche, nämlich Anspruch 1 in der schweizerischen Form und Anspruch 4 als zweckgebundenen Erzeugnisanspruch nach Art. 54 (5) EPÜ. Mit den Ansprüchen wurde Schutz für ein und dieselbe medizinische Verwendung ein und desselben Wirkstoffs angestrebt. Mit dem zweckgebundenen Erzeugnisanspruch 4 sollte dieselbe medizinische Verwendung desselben Stoffs geschützt werden wie mit dem schweizerischen Anspruch 1, und die fiktive Neuheit von Anspruch 1 leitete sich nicht vom "Arzneimittel" selbst her. Es gab keinen sachlichen Grund, der das Nebeneinander beider Ansprüche in dem für die Erteilung vorgeschlagenen Anspruchssatz weiterhin gerechtfertigt hätte. Ließe man einen derartigen Anspruchssatz zu, so würde dies zu der widersprüchlichen Rechtslage führen, dass auf ein und denselben Anspruchssatz zugleich die früheren Bestimmungen von Art. 54 EPÜ 1973 in Verbindung mit Art. 52 (4) EPÜ 1973 und die neuen Bestimmungen von Art. 54 EPÜ in Verbindung mit Art. 53 c) EPÜ anwendbar wären. Im vorliegenden Fall war Art. 54 (5) EPÜ anwendbar, und der zweckgebundene Erzeugnisanspruch 4 des Hauptantrags war im Hinblick auf eine neue medizinische Verwendung eines bekannten Stoffs gewährbar. Die schweizerische Anspruchsform war nach dem früher geltenden Recht (EPÜ 1973) als Ausnahme konzipiert. Für die Gewährung des schweizerischen Anspruchs 1 im Anspruchssatz des Hauptantrags gab es nach Ansicht der Kammer keinen rechtlichen Grund mehr. Dem Hauptantrag konnte nicht stattgegeben werden.
Auch in T 1021/11 umfasste der Hauptantrag zwei unabhängige Ansprüche für dieselbe medizinische Indikation ein und desselben Stoffs; einer der Ansprüche war in der schweizerischen Form und der andere gemäß Art. 54 (5) EPÜ abgefasst. Da die Sache bereits anhängig war, als die Entscheidung G 2/08 date: 2010-02-19 (ABl. 2010, 456) erging, gehörte die Anmeldung zu jenen, bei denen die schweizerische Anspruchsform grundsätzlich noch zulässig war. Für die vorliegende Anmeldung waren also beide Anspruchsformate verfügbar, und der Hauptantrag enthielt Ansprüche beider Formate, sodass sich die Frage stellte, ob in einem einzigen Anspruchssatz beide Anspruchstypen nebeneinander vorliegen dürfen. Die Kammer schloss sich der in T 1570/09 vertretenen Auffassung an, wonach die Entscheidung G 2/08 date: 2010-02-19 Anmeldern kein uneingeschränktes Recht einräume, in einem Anspruchssatz zwei unabhängige Ansprüche für ein und dieselbe medizinische Verwendung ein und desselben Stoffs zu formulieren, also einen in der schweizerischen Form und einen in der Form gemäß Art. 54 (5) EPÜ. Andererseits konnte die Kammer G 2/08 date: 2010-02-19 aber auch kein Verbot einer Koexistenz solcher Ansprüche in einem Anspruchssatz entnehmen, da die Entscheidung keine diesbezügliche Aussage enthielt. Nach sorgfältiger Prüfung der Begründung in T 1570/09 gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass im vorliegenden Fall mehrere Erwägungen gegen eine Beanstandung des Vorhandenseins beider Anspruchsformate in einem Anspruchssatz sprechen: Erstens merkte sie an, dass für ein und denselben Anspruchssatz gleichzeitig sowohl die Bestimmungen des EPÜ 1973 als auch die des revidierten EPÜ gelten können. Zweitens sei das Fortbestehen der schweizerischen Anspruchsform – parallel zu den Bestimmungen des Art. 54 (5) EPÜ – eine unmittelbare Folge der von der Großen Beschwerdekammer in G 2/08 date: 2010-02-19 getroffenen Übergangsregelung. Drittens sah die Kammer keinen Grund, einem Anmelder in dieser Übergangsphase die Verwendung der beiden verfügbaren Formate zu verwehren, und hielt deren Verwendung in ein und demselben Anspruchssatz für vertretbar. Obwohl die Ansprüche in den beiden Formaten Patentschutz für dieselbe medizinische Verwendung bieten, unterscheiden sich die Anspruchsgegenstände doch aufgrund der jeweiligen Anspruchskategorie in Kombination mit ihren technischen Merkmalen (s. oben T 1780/12, T 879/12). Schließlich kann ein Anmelder auch durch Einreichung zweier Patentanmeldungen mit demselben wirksamen Datum (parallele Anmeldungen, Stamm-/Teilanmeldung oder Prioritäts-/Nachanmeldung) Patentschutz für dieselbe zweite oder weitere medizinische Verwendung in beiden verfügbaren Anspruchsformaten erlangen. Die Kammer hatte somit keine Einwände gegen das Vorhandensein beider Anspruchsformate in einem Anspruchssatz, da im Fall der vorliegenden Anmeldung beide Formate zulässig waren. Sie verwies darauf, dass auch in vergleichbaren früheren Fällen keine Einwände erhoben wurden (s. T 396/09 und T 1869/11), wenngleich in den betreffenden Entscheidungen auf die Frage nicht explizit eingegangen wurde.