3.3.3 Erzeugnisansprüche auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial
In den miteinander verbundenen Fällen G 2/12 und G 2/13 (ABl. 2016, A28 und ABl. 2016, A29) hatte die Große Beschwerdekammer zu klären, ob sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Art. 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit von Erzeugnisansprüchen oder Product-by-Process-Ansprüchen auswirkt, die auf durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren unmittelbar hergestellte oder definierte Pflanzen oder entsprechendes Pflanzenmaterial (wie eine Frucht oder einen Pflanzenteil) gerichtet sind. Sie verneinte diese Frage.
Die Große Beschwerdekammer wandte die in Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens genannten verschiedenen methodischen Auslegungsprinzipien an. Sie stellte fest, dass keines davon zu dem Schluss führt, dass sich der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" über die Verfahren hinaus auch auf Erzeugnisse erstreckt, die durch solche Verfahren definiert oder hergestellt werden. Dieses Ergebnis fand sich bestätigt, als die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ als weitere Auslegungsmethode herangezogen wurden.
Außerdem untersuchte die Große Beschwerdekammer, ob sich seit der Unterzeichnung des Übereinkommens Gesichtspunkte ergeben haben, die Grund zu der Annahme geben könnten, eine dem Wortlaut getreue Auslegung der einschlägigen Vorschrift stehe in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen. Jedoch konnte sie nicht erkennen, warum die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers bei der Abfassung des Art. 53 b) EPÜ nicht mehr gerechtfertigt sein sollte, nur weil es auf dem Gebiet der Pflanzenzuchttechnik mittlerweile neue Technologien gebe.
Die Große Beschwerdekammer befasste sich mit der Frage, ob die Gewährung eines Erzeugnisanspruchs oder eines Product-by-Process- Anspruchs für durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren erzeugte Pflanzen oder entsprechendes Pflanzenmaterial als Umgehung des Verfahrensausschlusses angesehen werden könnte. Diese Frage verneinte sie unter Verweis auf den eindeutigen Wortlaut des Art. 53 b) EPÜ. Die Große Beschwerdekammer warnte, dass die Erweiterung des Verfahrensausschlusses auf Erzeugnisse, die durch im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen hergestellt werden, eine Unstimmigkeit in das System des EPÜ brächte, da für Pflanzen und Pflanzenmaterial, sofern es sich dabei nicht um eine Pflanzensorte handelt, generell Patentschutz erlangt werden kann.
Zur Frage, ob es relevant ist, dass sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren für die Züchtung von Pflanzen erstreckt, das nach Art. 53 b) EPÜ als solches nicht patentierbar ist, wies die Große Beschwerdekammer auf den Unterschied zwischen den Patentierbarkeitserfordernissen und dem Schutzumfang des Patents hin. Ob ein Erzeugnisanspruch oder ein Product-by-Process-Anspruch patentierbar ist, muss unabhängig von dem durch das erteilte Patent gewährten Schutzumfang geprüft werden.
Bezüglich der ethischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekte der laufenden Debatte betonte die Große Beschwerdekammer, dass deren Prüfung nicht unter ihre richterlichen Entscheidungsbefugnisse falle. Zu einer Einmischung in die Gesetzgebung sei sie nicht befugt.
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen wurden wie folgt beantwortet:
1. Der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Art. 53 b) EPÜ wirkt sich nicht negativ auf die Gewährbarkeit eines Erzeugnisanspruchs aus, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial wie eine Frucht (G 2/12) oder Pflanzenteile (G 2/13) gerichtet ist.
2. Die Tatsache, dass die Verfahrensmerkmale eines Product-by-Process-Anspruchs, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, ein im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen definieren, steht der Gewährbarkeit des Anspruchs nicht entgegen (G 2/13). Die Tatsache, dass das einzige am Anmeldetag verfügbare Verfahren zur Erzeugung des beanspruchten Gegenstands ein in der Patentanmeldung offenbartes im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen ist, steht der Gewährbarkeit eines Anspruchs, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, nicht entgegen (G 2/12, G 2/13).
3. Unter diesen Umständen ist es nicht relevant, dass sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren für die Züchtung von Pflanzen erstreckt, das nach Art. 53 b) EPÜ als solches nicht patentierbar ist (G 2/12, G 2/13).
In T 83/05 vom 10. September 2015 date: 2015-09-10 wandte die Kammer G 2/13 an. Anspruch 1 des Hauptantrags bezog sich auf eine in einem Kreuzungs- und Selektionsverfahren hergestellte genießbare Brassica-Pflanze. Die Ansprüche 2 und 3 waren auf einen genießbaren Teil und auf den Samen einer Broccolipflanze gerichtet, die nach einem Verfahren hergestellt waren, das genauso definiert war wie in Anspruch 1. Die Ansprüche 4 und 5 betrafen eine Broccolipflanze und eine Broccoli-Infloreszenz. Die Kammer verwies die Sache an die erste Instanz zurück mit der Auflage, das Patent auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 5 des Hauptantrags, einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.
In T 1242/06 vom 8. Dezember 2015 date: 2015-12-08 wandte die Kammer G 2/12 an. Die neu vorgelegten Ansprüche waren auf Erzeugnisse beschränkt und auf eine (natürlich) dehydratisierte Tomatenfrucht der Art L. exculentum gerichtet. Sie befand, dass der Gegenstand der Ansprüche nicht nach Art. 53 b) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist. Die Kammer verwies den Fall an die Einspruchsabteilung zurück mit der Auflage, das Patent auf der Grundlage dieser Ansprüche aufrechtzuerhalten.
Auf eine Mitteilung der Europäischen Kommission hin, wonach die Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen Erzeugnisse ausschließen sollte, die "ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden", hat der Verwaltungsrat 2017 R. 27 EPÜ und R. 28 EPÜ geändert (ABl. 2017, A56), um Pflanzen, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, von der Patentierbarkeit auszuschließen.
In T 1063/18 befand die Kammer in erweiterter Zusammensetzung aus drei technisch vorgebildeten und zwei rechtskundigen Mitgliedern, dass R. 28 (2) EPÜ (s. ABl. 2017, A56) im Widerspruch zu Art. 53 b) EPÜ steht, wie er von der Großen Beschwerdekammer in den Entscheidungen G 2/12 und G 2/13 ausgelegt wurde. Die Kammer verwies auf Art. 164 (2) EPÜ, dem zufolge bei mangelnder Übereinstimmung mit den Vorschriften der Ausführungsordnung die Vorschriften des Übereinkommens vorgehen, und entschied, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.
Die Kammer sah keinen Grund, von G 2/12 und G 2/13 abzuweichen. Sie hielt die Auslegung der Biotechnologierichtlinie in der Mitteilung der Europäischen Kommission über bestimmte Artikel der Richtlinie 98/44/EG für keine relevante Entwicklung, weil diese nicht rechtsverbindlich bestätigt worden sei. Zur Frage, ob Art. 53 b) EPÜ im Hinblick auf Art. 31 (3) a) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge anders ausgelegt werden müsse als in den Entscheidungen G 2/12 und G 2/13, befand die Kammer, dass weder der Beschluss des Verwaltungsrats, R. 28 (2) EPÜ zu genehmigen, noch die Mitteilung der Europäischen Kommission als spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien im Sinne des Wiener Übereinkommens gewertet werden können.