5. Deutlichkeit und Vollständigkeit der Offenbarung
Ob die Offenbarung des Streitpatents hinreichend deutlich und vollständig im Sinne der Art. 100 b) und 83 EPÜ ist, muss unter Würdigung der in den Beispielen sowie in den anderen Teilen der Beschreibung enthaltenen Informationen und nach Maßgabe des am Prioritätstag allgemein üblichen Wissensstands des Fachmanns entschieden werden (T 322/93 und T 524/01).
Wird die beanspruchte Erfindung in der Anmeldung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann, so bedeutet das notwendigerweise, dass darin wenigstens ein Weg zur Ausführung der offenbarten Erfindung gemäß R. 42 (1) e) EPÜ offenbart wird, wobei die notwendigen Informationen der Beschreibung unter Einbeziehung des darin genannten Stands der Technik zu entnehmen sind (s. z. B. T 389/87, T 561/96 und T 990/07). In T 990/07 merkte die Kammer an, dass sich der der Entscheidung T 561/96 zugrundeliegende Sachverhalt zwar insofern von dem Sachverhalt in T 990/07 unterschied, als die Beschreibung und die Zeichnungen in T 561/96 nicht fehlerhaft waren; doch hatte die Kammer in T 561/96 auch festgestellt, dass das Fehlen von Beispielen nicht gegen R. 27 (1) e) EPÜ 1973 (R. 42 (1) e) EPÜ) verstößt, wenn sie entbehrlich sind. Die genannte Vorschrift verlangt die Aufnahme von Beispielen nur dort, "wo es angebracht ist". Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterscheidet klar zwischen den Begriffen "Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung" und "Beispiele" in R. 27 (1) e) EPÜ 1973. Nach dieser Rechtsprechung ist die genaue Angabe eines Wegs zur Ausführung der beanspruchten Erfindung vor dem Hintergrund des Art. 83 EPÜ zu sehen. Hierbei handelt es sich zweifellos um ein zwingendes Erfordernis, dem die Beschreibung als Ganzes genügen muss. Hingegen sind Beispiele nur dann unverzichtbar, wenn die Beschreibung diesem Erfordernis ansonsten nicht genügt. Somit dienen die in R. 27 (1) e) EPÜ 1973 erwähnten Beispiele offenbar vor allem dem Zweck, eine ansonsten unvollständige Lehre zu ergänzen. (S. auch T 1918/07 und T 1169/08).
In T 226/85 (ABl. 1988, 336), T 409/91 (ABl. 1994, 653) und T 694/92 (ABl. 1997, 408) wurden im Patent bzw. in der Patentanmeldung nur ein Weg oder einige wenige Wege zur Ausführung der Erfindung angegeben. In jeder dieser Entscheidungen stellten die Kammern fest, dass die konkreten Beispiele nicht so offenbart waren, dass die beanspruchte Erfindung ausgeführt werden konnte. Nach Auffassung der Kammer in T 617/07 kann diesen Entscheidungen jedoch nicht entnommen werden, dass eine ausreichende Offenbarung grundsätzlich immer zu verneinen ist, wenn nur ein einziges Beispiel für die Ausführung der Erfindung gegeben wird. Vielmehr wird in allen drei Entscheidungen hervorgehoben, dass ein Einwand unzureichender Offenbarung (i) ernsthafte, durch nachprüfbare Tatsachen erhärtete Zweifel voraussetzt und (ii) von der jeweiligen Beweislage dazu abhängt, ob die beanspruchte Erfindung anhand der Offenbarung eines Ausführungsbeispiels als nacharbeitbar anzusehen ist oder nicht.
In T 721/16 wurde das Patent von der Einspruchsabteilung widerrufen. Der Einwand unzureichender Offenbarung bezog sich auf die Messung von Parametern, die die Polyvinylpyrrolidon-Pulverzusammensetzungen definierten. Obwohl unstrittig war, dass die in den Ansprüchen 1, 2 und 3 definierten Parameter dem Fachmann allgemein bekannt waren und auch im Streitpatent definiert wurden, brachte der Beschwerdegegner (Einsprechende) vor, dass das Streitpatent nicht alle für die Durchführung reproduzierbarer Messungen dieser Parameter notwendigen Bedingungen offenbare. Das Vorbringen des Beschwerdegegners in der Sache T 721/16 betraf tatsächlich aber die Nacharbeitung der Beispiele aus dem Streitpatent, d. h. die Herstellung von Polyvinylpyrrolidon-Pulverzusammensetzungen mit bestimmten K-Werten, bestimmten Quotienten für die Abnahme der K-Werte und einem bestimmten Gehalt unlöslicher Stoffe. Die Kammer stellte jedoch fest, dass die Schwierigkeit der exakten Nacharbeitung der Beispiele aus dem Streitpatent im vorliegenden Fall nicht ausschlaggebend für die Feststellung einer unzureichenden Offenbarung sei und dieser Punkt unbeantwortet bleiben könne. Zum einen gelte es, die ausreichende Offenbarung der Kombination der technischen Merkmale der Erfindung, wie sie durch die in den Ansprüchen verwendeten Begriffe definiert würden, zu bewerten (s. R. 43 (1) EPÜ) und nicht der speziellen beispielhaften Ausführungsformen, die im vorliegenden Fall nicht Gegenstand eines Anspruchs seien. Zum anderen sei nach R. 42 (1) e) EPÜ in der Beschreibung wenigstens ein Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung im Einzelnen anzugeben; dies solle, wo es angebracht ist, durch Beispiele geschehen – was bedeute, dass Beispiele nicht zwingend vorhanden sein müssten, um das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung zu erfüllen. (Zum letzten Punkt s. auch T 1437/07, Nrn. 38 ff. der Gründe.)
In T 2242/16 war der Beschwerdeführer (Patentinhaber) der Auffassung, dass gemäß T 665/90 eine exakte Nacharbeitung eines Beispiels des Streitpatents notwendig gewesen wäre, um die behauptete mangelnde Ausführbarkeit zu belegen. Die Kammer entschied, ein derartiges Erfordernis könne im vorliegenden Fall nicht greifen; die genaue Vorgehensweise des Beispiels, so lehre zumindest implizit das Streitpatent, sei nicht wesentlich. Die Kammer verwies weiter auf die Rechtsprechung (s. T 740/90, T 406/91, T 1712/09 in Verbindung mit der in diesem Kapitel in II.C.5.4 behandelten ständigen Rechtsprechung).