5.12. Kriterien für die Berücksichtigung geänderter Ansprüche
Nach der früheren ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern war es dem Patentinhaber, der sein Patent im Einspruchsverfahren nur beschränkt verteidigt hatte, grundsätzlich (d. h. soweit nicht im Einzelfall das Verbot der reformatio in peius griff oder ein Verfahrensmissbrauch vorlag) nicht verwehrt, im anschließenden Beschwerdeverfahren wieder zu einer breiteren oder der erteilten Fassung seines Patentbegehrens zurückzukehren. Zwischenzeitliche Einschränkungen des Patentbegehrens bedeuteten daher keinen ausdrücklichen Verzicht auf Teile des Patents, sondern waren nur als Formulierungsversuche anzusehen, die das Patent gegenüber Einwänden abgrenzen sollten (s. z. B. die Entscheidungen T 123/85, ABl. 1989, 336, T 296/87, ABl. 1990, 195, T 331/89, T 900/94, T 699/00, T 880/01, T 794/02, T 934/02T 1018/02, T 386/04, T 1276/05 und die neueren Entscheidungen T 43/16, T 727/15).
Mit dem Erlass der R. 116 (2) EPÜ sowie der Art. 12 (4) und 13 VOBK 2007 hat sich die Gesetzeslage gegenüber der Entscheidung T 123/85 jedoch geändert. Gemäß Art. 12 (4) VOBK 2007 lag es im Ermessen der Beschwerdekammern Anspruchssätze, die schon in erster Instanz veranlasst gewesen wären, unberücksichtigt zu lassen. Dies gilt auch für Anspruchssätze, mit denen das Patent erstmals im Beschwerdeverfahren in einer gegenüber dem Einspruchsverfahren breiteren Fassung verteidigt wird (T 28/10, T 36/12, T 467/13, T 1135/15). Art. 12(6), Satz 2, VOBK 2020 nimmt diesen Aspekt des Art. 12(4) VOBK 2007 und die ständige Rechtsprechung dazu auf (siehe CA/3/19, Erläuterungen zu Art. 12(6) VOBK 2020; siehe auch Kapitel V.A.4.3.7 über die Rechtsprechung zu Art. 12(6) VOBK 2020).
Unter Hinweis auf T 28/10 stellte die Kammer in T 671/08 fest, dass es kein absolutes Recht des Patentinhabers gibt, im Beschwerdeverfahren zur erteilten Fassung des Patents zurückzukehren, dass er aber ebenso wenig grundsätzlich daran gehindert ist. Wie der vorliegende Fall zeige, gebe es Fälle, in denen die Zulassung eines solchen Antrags keine zusätzliche Arbeit verursache, und andere Fälle, in denen ein solcher Antrag sogar einem Verfahrensmissbrauch gleichkommen könne. Werde ein derartiger Antrag im Beschwerdeverfahren gestellt, müsse die Kammer folglich ihr Ermessen nach Art. 12 (4) VOBK 2007 ausüben.
Angesichts der Einwände der Einsprechenden wegen mangelnder Neuheit bzw. mangelnder erfinderischer Tätigkeit beschloss der Patentinhaber in der Sache T 1964/12, keine Argumente dafür vorzubringen, dass die Verfahrensansprüche in der erteilten Fassung neu und erfinderisch waren, sondern schränkte deren Gegenstand bewusst ein. Die Kammer erklärte, dies zeige, dass der Patentinhaber ganz bewusst keine Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Verfahrensansprüche in der erteilten Fassung einholen wollte. Dem Patentinhaber zu gestatten, im Beschwerdeverfahren auf die Verfahrensansprüche in der erteilten Fassung zurückzugreifen, liefe der gebotenen Verfahrensökonomie zuwider. Siehe aber auch T 526/13, in der die Kammer den von ihr zu entscheidenden Fall von T 1964/12 abgrenzte.
In T 1282/05 hatte der Beschwerdeführer auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung hin neue Anträge eingereicht, wobei die Gegenstände der unabhängigen Ansprüche jeweils wesentlich breiter gefasst waren als die bisher im Beschwerdeverfahren befindlichen Anspruchsgegenstände und im Wesentlichen eine Rückkehr zum ursprünglichen Anspruch 1 darstellten. Die Kammer stellte fest, dass die Änderungen nicht als Reaktion auf Einwände im Ladungsbescheid angesehen werden konnten und der Beschwerdeführer auch keine Gründe angegeben hatte. Auch enthielt die Beschwerdebegründung keine Hinweise, dass eine solche Rückkehr in Richtung des ursprünglichen Anspruchsgegenstands beabsichtigt war. Daher stellte die Vorgehensweise des Beschwerdeführers einen Verstoß gegen Art. 12 (2) VOBK 2007 dar. Hinzu kam, dass vergleichbare Anträge bereits in der ersten Instanz hätten vorgebracht werden können. S. auch T 1420/06.
In T 2075/11 hätte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) das Patent in der erteilten Fassung eindeutig im Einspruchsverfahren verteidigen können, hatte es aber stattdessen beschränkt, sodass keine erstinstanzliche Entscheidung über die erteilte Fassung ergehen konnte (s. auch den ähnlich gelagerten Fall T 933/04). Die Kammer war der Ansicht, dass, selbst wenn sie das Verhalten des Beschwerdeführers nicht als Verzicht auf die erteilte Fassung werten würde, die Zulassung dieses erst im Beschwerdeverfahren vorgelegten Antrags auf jeden Fall gegen die Verfahrensökonomie verstößt. Ebenso T 781/13; s. auch T 1067/08, T 2075/11.
In T 796/02 entschied die Kammer, dass ein Verfahrensmissbrauch vorliegt, wenn ein Antrag mit breiteren Ansprüchen im Verfahren vor der Beschwerdekammer zurückgezogen wird, um eine negative Entscheidung der Kammer darüber zu vermeiden, dann aber diese breiteren Ansprüche vor der Einspruchsabteilung wieder eingeführt werden, nachdem eine Zurückverweisung des Falls zur weiteren Entscheidung aufgrund weitaus beschränkterer Ansprüche erreicht wurde.
In T 1578/13 hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) während des Einspruchsverfahrens weder die Zurückweisung des Einspruchs beantragt, noch das Patent in seiner erteilten Fassung verteidigt. Es wurde lediglich die Aufrechterhaltung in um einen behaupteten offensichtlichen Fehler berichtigten Fassungen beantragt. Nach Ansicht der Kammer hätte der Beschwerdeführer spätestens in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung in Kenntnis der negativen Auffassung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der beantragten Korrektur die erteilte Fassung verteidigen müssen.
Zum Thema "Rückkehr zu breiteren Ansprüchen" siehe auch die Rechtsprechung zu Art. 12 (4) VOBK 2007 in Kapitel V.A.5.11.3 i) "Erneute Stellung von im Einspruchsverfahren zurückgenommenen Anträgen". Ebenfalls zu beachten ist im vorliegenden Zusammenhang, dass im Einspruchsbeschwerdeverfahren nach G 9/92 date: 1994-07-14 und G 4/93 (ABl. 1994, 875) der Umfang der Änderungsbefugnis des Patentinhabers davon abhängt, ob er selbst eine zulässige Beschwerde eingelegt hat oder nur Beschwerdegegner ist, s. dazu unter Kapitel V.A.3.1. "Bindung an die Anträge – Verbot der reformatio in peius".