4.2. Offensichtlichkeit des Fehlers und der Berichtigung
Die Große Beschwerdekammer stellte in G 3/89 und in G 11/91 fest, dass die die Offenbarung betreffenden Teile einer europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung es alsdann dem Fachmann – unter Heranziehung des am Anmeldetag bestehenden allgemeinen Fachwissens – ermöglichen müssen, den genauen Inhalt der Angabe, die der Antragsteller am Anmeldetag oder bei einer Änderung nach Art. 123 EPÜ statt der unrichtigen Angabe tatsächlich machen wollte, unmittelbar und eindeutig zu ermitteln derart, dass für den besagten Fachmann "sofort erkennbar ist, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird" (R. 139, Satz 2 EPÜ). Bestehen dagegen Zweifel, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird, so kann eine Berichtigung nicht erfolgen.
In J 5/06 erklärte die Kammer mit Verweis auf die Entscheidung T 158/89 (die im Fall von zwei gleichermaßen plausiblen Möglichkeiten für den Prozentbereich eines Bestandteils eine Berichtigung nicht akzeptiert hatte), dass die Feststellung, ein vorgeschlagener Dokumentensatz sei ein wahrscheinlicher und geeigneter Ersatz, nicht dasselbe sei wie die Feststellung, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte. Letzteres impliziere, dass es nur einen einzigen plausiblen Ersatz gebe, und zwar den, den der Fachmann aus den Teilen der Anmeldung abgeleitet hätte, die die Offenbarung der Erfindung bildeten. Im vorliegenden Fall kam die Kammer zu dem Schluss, dass ein vollständiger Austausch der Anmeldungsunterlagen dagegen ganz offensichtlich den Weg für eine Fülle plausibler Ersatzmöglichkeiten ebnen würde. S. auch J 16/13 zum Ersatz der Anmeldungsunterlagen sowie T 15/09 und T 846/16 zur Berichtigung eines Merkmals in den vorliegenden Ansprüchen).
In T 955/92 hätten die Gründe, die der Beschwerdeführer dafür genannt habe, dass nur die beantragte Berichtigung beabsichtigt gewesen sein konnte, nicht auf dem allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag beruht. Um zu dem Schluss zu gelangen, dass die beantragte Berichtigung die einzig physikalisch sinnvolle sei, müssten Versuche durchgeführt werden, für die mehr als allgemeines Fachwissen benötigt werde, und deren Ergebnisse hätten am Anmeldetag nicht zur Verfügung gestanden. Der Antrag auf Berichtigung wurde daher abgelehnt.
In T 438/99 wies die Kammer darauf hin, dass die Tatsache, dass ein Begriff oder Satz nicht zu verstehen oder zu deuten sei, weil er eine nicht zu lösende Unklarheit beinhaltet, nicht zwangsläufig bedeute, dass seine Streichung eine zulässige Änderung im Sinne von Art. 123 (2) EPÜ 1973 ist; dem unklaren Begriff verbleibe ein Rest an klarer Bedeutung, im vorliegenden Fall z. B. die Lehre einer bestimmten Richtung, deren Weglassung zu einer anderen technischen Lehre führe. Aus diesem Grund erfüllte die angebotene Berichtigung in Form einer ersatzlosen Streichung des Merkmals das zweite Erfordernis von R. 88 EPÜ 1973 (sofort erkennbar, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird) nicht.
T 1728/07 betrifft die Berichtigung eines Fehlers in einer Strukturformel für Oxazolin-Derivate. Die Kammer erinnerte daran, dass nach R. 139 Satz 2 EPÜ für den Fachmann sofort erkennbar sein muss, i) dass ein Fehler vorliegt und ii) wie dieser zu berichtigen ist. In Bezug auf das Erfordernis ii muss festgestellt werden, ob das berichtigte Merkmal unmittelbar und eindeutig aus dem Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung als Ganzem abgeleitet werden kann. Die Kammer betrachtete auch dieses Erfordernis als erfüllt.
In T 423/08 lag ein offensichtlicher Fehler vor, denn in der ursprünglichen Formulierung war eines der Worte "gemäß" oder "vor" überzählig. Die Streichung von "gemäß" erschien für sich alleine betrachtet sinnvoll, war aber mit dem Wortlaut des Anspruchs 1 nicht vereinbar. Die Streichung von "vor" unterlag damit keiner Beanstandung im Hinblick auf Art. 100(c) EPÜ.
In T 1508/08 kam die Kammer zum Schluss, dass die zweite für die Gewährbarkeit einer Korrektur nach R. 139 EPÜ erforderliche Voraussetzung (b) nicht erfüllt sei. Nach Ansicht der Kammer blieben in diesem Fall trotz Korrektur Unklarheiten nicht nur unaufgelöst, sondern es werden im Gegenteil sogar neue Unklarheiten hinzugefügt. Auch aus diesem Grund würde der Fachmann die vom Beschwerdeführer (Patentinhaber) durchgeführte Korrektur nicht in Betracht ziehen. Selbst wenn man zugunsten des Beschwerdeführers annimmt, dass der Fachmann die vom Beschwerdeführer vorgenommene Korrektur in Betracht gezogen hätte, würde diese Korrektur nicht die einzig mögliche Korrektur darstellen sondern eine von mindestens drei in Frage kommenden Korrekturen.
In T 455/09 urteilte die Kammer, dass der Fachmann im vorliegenden Fall nicht mit Sicherheit eine der beiden Möglichkeiten ausschließen konnte, sodass nicht sofort und eindeutig erkennbar war, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wurde. Ein anderer Fall, in dem andere Berichtigungen gleichermaßen möglich waren, ist in T 923/13 beschrieben.
In T 2303/10 war es für den Fachmann offensichtlich, dass die erste von der Prüfungsabteilung erwähnten Alternativen der Korrektur mit dem Offenbarungsgehalt der Anmeldung völlig unvereinbar wäre, wohingegen die zweite Alternative technisch sinnvoll und darüber hinaus völlig im Einklang mit dem Offenbarungsgehalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung steht; es lag somit eine zulässige Berichtigung vor.
T 163/13 betraf die Berichtigung von "72EF" in "72°F". Die Kammer befand, dass die einzig mögliche Berichtigung, die in diesem Zusammenhang eine technische Bedeutung hat, die Temperatur ist, da diese ein wesentlicher Parameter des betreffenden Tests war. Der Fachmann würde daher sofort zur Ansicht gelangen, dass "F" für "Fahrenheit" steht, und eine entsprechende Berichtigung vornehmen.
In T 657/11 hielt die Kammer die beantragte Berichtigung für offensichtlich. Das Argument des Beschwerdeführers, wonach die Berichtigung nicht offensichtlich sei, weil der falsche Wortlaut des Anspruchs auch an einer Stelle in der Beschreibung in der eingereichten Fassung zu finden war, ließ sie nicht gelten. Abgesehen von dieser einen Textstelle entsprachen die übrigen Teile der Beschreibung, die Ausführungsbeispiele und die Zeichnungen der Berichtigung. Eine andere Berichtigung schloss die Kammer aus, weil sie zwar theoretisch und technisch möglich wäre, der Fachmann sie aber sofort zurückweisen würde.
In T 141/14 stellte die Kammer fest, dass die Änderung des Merkmals "Vanadium" in "Vanadiumoxid" die Erfordernisse von R. 139 EPÜ nicht erfüllte, weil die vorgeschlagene Berichtigung nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellte, auf die der Fachmann kommen würde. Solange mindestens eine weitere Möglichkeit der Berichtigung gegeben sei, sei das folgende Kriterium in R. 139 EPÜ nicht erfüllt: "so muss die Berichtigung derart offensichtlich sein, dass sofort erkennbar ist, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird".
In T 606/90 ließ die Beschwerdekammer eine Berichtigung nach R. 88 Satz 2 EPÜ 1973 im Einspruchsverfahren zu, obwohl anhand des veröffentlichten Textes des Patents die Berichtigung nicht derart offensichtlich war, dass sofort erkennbar war, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wurde. Der Anmelder hatte maschinenschriftlich Änderungen der Ansprüche und der Beschreibung eingereicht und auch das "Arbeitsdokument" mit den handschriftlich eingetragenen Änderungen zu der Akte gegeben. In der maschinengeschriebenen Version des Anspruchs 1 fehlte die Angabe, deren Ergänzung im Wege der Berichtigung nach R. 88 EPÜ 1973 nun beantragt war; an der entsprechenden Stelle der Beschreibung war sie vorhanden. Bei der Vorbereitung des Textes zur Veröffentlichung des Patents wurde jedoch durch ein Versehen des Amts die fragliche Angabe auch in der Beschreibung weggelassen. Die Kammer gelangte zu der Auffassung, dass die Auslassung in der Beschreibung bei der Prüfung der Zulässigkeit der Berichtigung nicht berücksichtigt werden dürfe. Die Berichtigung des Mangels in Anspruch 1 wäre für den Leser des Patents sofort erkennbar gewesen, wenn nicht auch dem Amt ein Übertragungsfehler unterlaufen wäre.
In T 244/19 hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) argumentiert, bei dem Rückbezug des ursprünglichen Anspruchs 6 auf nur einen der beiden unabhängigen Produktansprüche habe es sich um einen offensichtlichen Fehler gehandelt. Aus Sicht der Kammer war jedoch nicht sofort erkennbar, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte.