5.1. Zulässigkeit der Änderungen
Inwiefern Änderungen im Einspruchsverfahren zulässig sein können, wurde in T 1149/97 (ABl. 2000, 259) erörtert. Sobald ein Erteilungsbeschluss ergangen ist, ist das europäische Prüfungsverfahren abgeschlossen, und seine Ergebnisse sind für den Anmelder und das EPA insoweit bindend, als keine weiteren Änderungen zulässig sind. Wird jedoch Einspruch eingelegt, so können am Streitpatent weitere Änderungen vorgenommen werden. Solche Änderungen liegen nicht im allgemeinen Ermessen des Patentinhabers, weil das Einspruchsverfahren keine Fortsetzung des Prüfungsverfahrens ist (G 1/84, ABl. 1985, 299). Der Patentinhaber kann jedoch nach R. 80 EPÜ (R. 57a EPÜ 1973) – unbeschadet der R. 138 EPÜ (vgl. R. 87 EPÜ 1973) – auf die Einwände des Einsprechenden mit Änderungen der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen reagieren, sofern die Änderungen durch die in Art. 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe veranlasst sind, auch wenn der Einsprechende den betreffenden Grund nicht geltend gemacht hat (s. auch in diesem Kapitel IV.C.5.1.2). Zusätzlich sind nach R. 138 EPÜ durch ältere nationale Rechte veranlasste Änderungen zulässig (s. auch in diesem Kapitel IV.C.5.1.3).
Nach Ansicht der Kammer in T 1149/97 schlagen sich in diesen Bestimmungen allenfalls die formalen Aspekte einer verfahrenstechnischen Zäsur nieder, die in der Einspruchsphase mit der Erteilung eines Patents einhergeht. Die Erteilung eines Patents bildet keine generelle Zäsur in dem Sinne, dass das Patent danach in unveränderter Form verteidigt werden müsste. Es sind jedoch nur Änderungen als Reaktion auf tatsächliche oder mögliche Einspruchsgründe oder auf kollidierende ältere nationale Rechte zulässig (R. 80 und 138 EPÜ). Materiellrechtliche Zäsurwirkungen für Änderungen nach der Erteilung könnten nach Auffassung der Kammer nur auf Art. 123 (3) EPÜ gestützt werden (s. auch unter Kapitel II.E.2.3.2).
Da das EPÜ im Einspruchsverfahren einen Verzicht auf das europäische Patent nicht vorsieht kann der Patentinhaber lediglich beantragen, sein Patent zu ändern. Mit einem Antrag, sein Patent beschränkt aufrechtzuerhalten, bringt der Patentinhaber grundsätzlich nichts weiter zum Ausdruck als den Versuch, sein Patent gegenüber Bedenken, die das EPA oder die Einsprechenden geäußert haben, abzugrenzen. Das Vorlegen der beschränkten Fassung besagt dagegen nicht, dass der Patentinhaber auf den Teil seines erteilten Patents, der über den beschränkten Antrag hinausgeht, unwiderruflich verzichtet. Dem Patentinhaber steht es im Einspruchsverfahren grundsätzlich frei, einen solchen Antrag jederzeit zurücknehmen oder nachträglich zu ändern, insbesondere das Patent wieder in der erteilten Fassung zu verteidigen, sofern darin nicht ein verfahrensrechtlicher Missbrauch liegt oder er durch das Verbot der reformatio in peius daran gehindert ist (vgl. z. B. T 123/85, ABl. 1989, 336; T 296/87, ABl. 1990, 195; T 445/97; T 473/99; T 699/00; T 880/01; T 794/02; T 934/02; T 1018/02; T 1213/05; T 1394/05; T 1150/11; T 385/15 und T 43/16, denen zufolge dieser Grundsatz in der ständigen Rechtsprechung verankert ist).
Im Gegensatz zu R. 137 (3) EPÜ (R. 86 (3) EPÜ 1973) wird in R. 80 EPÜ (R. 57a EPÜ 1973) keine Regelung über den Zeitpunkt getroffen, bis zu dem der Patentinhaber die Beschreibung, die Ansprüche und die Zeichnungen unter den in dieser Vorschrift genannten Bedingungen ändern darf. Die Entscheidungen der Kammern basierten von Anfang an auf dem Grundsatz, dass der Patentinhaber nicht in jedem beliebigen Stadium des Einspruchsverfahrens Anspruch darauf hat, Änderungen vorzunehmen, und daran änderte sich nichts durch die Aufnahme von R. 57a EPÜ 1973. Das Ermessen der Einspruchsabteilung in Bezug auf verspätet eingereichte Änderungen wurde jedoch von verschiedenen Vorschriften des EPÜ abgeleitet (darunter R. 116 (2) und Art. 114 (2) EPÜ). In R 6/19 erachtete die Große Beschwerdekammer Art. 123 (1) EPÜ als Grundlage für das Ermessen des EPA, Anträge im Einspruchsverfahren zuzulassen (s. auch T 966/17, in der Art. 123 (1) Satz 1 EPÜ in Verbindung mit R. 79 (1) und 81 (3) EPÜ angeführt wird, und T 256/19, in der auf R 6/19 und T 966/17 verwiesen und Art. 123 (1) EPÜ in Verbindung mit R. 79 (1) EPÜ und/oder R. 81 (3) EPÜ sowie im Fall einer anberaumten mündlichen Verhandlung mit R. 116 (2) EPÜ angeführt wird). In T 754/16 betonte die Kammer, dass das Ermessen der Einspruchsabteilung, neue Anträge nicht zuzulassen, zunächst einmal deren verspätete Einreichung voraussetzt. Zu Einzelheiten der verspäteten Einreichung von Änderungen im Einspruchsverfahren siehe dieses Kapitel IV.C.5.1.4.
In T 966/17 stellte die Kammer klar, dass die Parteien in einem strittigen Verfahren kein Anrecht auf eine "detaillierte Anleitung" durch das entscheidende Organ zur Behebung des diskutierten Mangels haben. Stattdessen obliege es jeder Partei, selbst auf den Vortrag des Verfahrensgegners adäquat zu reagieren.
In G 1/10 (ABl. 2013, 194) urteilte die Große Beschwerdekammer, dass R. 140 EPÜ auch im Einspruchs- oder Beschränkungsverfahren nicht zur Berichtigung von Patenten herangezogen werden kann. Der Patentinhaber hat jedoch stets die Möglichkeit, im Einspruchs- oder Beschränkungsverfahren eine Änderung seines Patents anzustreben und dadurch die mutmaßliche Unrichtigkeit auszuräumen. Diese Änderung muss natürlich alle für Änderungen geltenden rechtlichen Erfordernisse erfüllen, einschließlich derer des Art. 123 EPÜ (s. für eine vollständige Zusammenfassung von G 1/10 Kapitel III.L.2.1.; siehe aber auch T 657/11, zusammengefasst in Kapitel IV.C.5.1.8).