5.1.2 Einzelfälle
Im Hinblick auf die in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts muss ein Beteiligter, der sich auf Art. 125 EPÜ beruft und behauptet, nach deutschem Recht sei es möglich, eine Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts abzuändern, wenn sie mit einem schwerwiegenden Verfahrensfehler behaftet sei, auch Beweise dafür vorlegen, dass ein solcher Verfahrensgrundsatz in der Mehrzahl der EPÜ-Vertragsstaaten existiert und mithin als "allgemein anerkannt" im Sinne von Art. 125 EPÜ 1973 gilt (T 843/91 date: 1993-08-05, ABl. 1994, 832). Im Anschluss an diese Rechtsprechung führte eine weitere Kammer in der Sache T 833/94 aus, wenn die vorgelegten Beweismittel nicht unmittelbar erkennen lassen, ob der umstrittene Sachverhalt wahr oder falsch sei, sondern Kenntnisse des nationalen Rechts und der nationalen Patentpraxis voraussetzen, so müssen Recht und Patentpraxis genauso bewiesen werden wie jeder andere Sachverhalt, auf den sich die Argumentation einer Partei stützt.
In J 14/19 war der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des nationalen Verfahrens nach deutschem Verfahrensrecht zu klären. Aus Sicht des EPA ist deutsches Recht im kollisionsrechtlichen Sinn fremdes Recht. Bei Anwendung fremden Rechts muss das EPA dieses – soweit möglich – im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden. Dabei ist das EPA nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden. Sofern dem EPA bekannt, sollte höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung jedoch berücksichtigt und gewürdigt werden. Der Beschwerdeführer begründete die Anwendbarkeit deutschen Rechts mit Verweisen auf deutsche Gesetzeskommentare. Gesetzeskommentare sind keine amtlichen Veröffentlichungen und gehören weder zum durch Rechtsetzung entstandenen Recht noch zur Rechtsprechung. Für sich genommen sind sie bei der Anwendung fremden Rechts durch das EPA daher nicht zu berücksichtigen. Beteiligte und deren Vertreter sollten diesbezüglich nicht davon ausgehen, dass die Beschwerdekammern Zugang zur gesamten rechtswissenschaftlichen Literatur aller Vertragsstaaten des EPÜ haben, insbesondere wenn diese Literatur nicht das Patentrecht betrifft. Die vom Beschwerdeführer genannten Gesetzeskommentare zur deutschen Verwaltungsgerichtsordnung wurden daher nur in dem Ausmaß berücksichtigt, in dem diese vorgelegt wurden.
Die Große Beschwerdekammer kam in G 4/19 zu dem Schluss, dass eine tatsächliche und wirksame Übereinkunft darüber besteht, dass das EPA die Doppelpatentierung verbieten sollte, indem es die in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts berücksichtigt, d. h. durch eine direkte Anwendung des Art. 125 EPÜ. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des EPÜ war die Erklärung der Delegationen dafür zu werten, dass das Verbot der Doppelpatentierung ein allgemein anerkannter Grundsatz in den Vertragsstaaten war. Es wurde weder der Großen Beschwerdekammer zur Kenntnis gebracht noch argumentiert, dass sich diese Sachlage geändert haben könnte, beispielsweise durch den Beitritt neuer Vertragsstaaten oder aufgrund neuerer Gesetzgebung in den Vertragsstaaten.
Im Ex-parte-Fall T 1473/13 (Aussetzung des Verfahrens – vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerden wegen der möglicherweise mangelnden richterlichen Unabhängigkeit der Beschwerdekammermitglieder) vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Kammern gemäß der Rechtsprechung (T 833/94, T 74/00, T 517/14) keine eigenen Ermittlungen zum Vorbringen eines Beteiligten anstellen müssen, dies aber – zumindest in Ex-parte-Fällen – tun können, wenn sie es für angemessen halten. Der Beschwerdeführer hatte Behauptungen aufgestellt, ohne Einzelheiten anzugeben bzw. Erklärungen z. B. dazu zu liefern, ob das Bundesverfassungsgericht nach deutschem Verfassungsrecht für Deutschland betreffende Handlungen des EPA zuständig ist und falls ja, welchen Umfang diese Zuständigkeit hat und mit welchen Befugnissen sie einhergeht. Die Kammer hielt es für angemessen, sich von Amts wegen mit den Kernpunkten dieser Rechtsfrage zu befassen, denn im Fall einer Verneinung der Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Handlungen der Beschwerdekammern des EPA war jede weitere Auseinandersetzung mit dem vierten Hilfsantrag hinfällig.