3.2.3 Einspruchsbeschwerdeverfahren
Im Beschwerdeverfahren dürfen neue Einspruchsgründe nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden. Die Beschwerdekammer darf in ihrer Entscheidung sachlich in keiner Weise auf einen neuen Einspruchsgrund eingehen, wenn der Patentinhaber seiner Einführung in das Verfahren nicht zugestimmt hat. Zulässig ist dann nur der Hinweis, dass die Frage aufgeworfen worden ist (s. G 10/91 und G 9/91, ABl. 1993, 420; G 1/95, ABl.1996, 615). In G 7/95 (ABl. 1996, 626) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit, auch wenn beide unter Art. 100 a) EPÜ fielen, unterschiedliche rechtliche Gründe für einen Einspruch darstellten.
Zur Einführung eines neuen Einspruchsgrunds im Einspruchsverfahren s. Kapitel IV.C.3.4.
In T 1571/12 gab der Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer sein Einverständnis zu der Einführung des neuen Einspruchsgrundes der mangelnden Ausführbarkeit der Erfindung (Art. 100 b) EPÜ). Die Kammer verwies den Fall an die Vorinstanz zurück, um die hochrelevante Frage der ausreichenden Ausführbarkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 zu klären.
In T 350/13 hatte der Einsprechende argumentiert, der Patentinhaber habe implizit seine Zustimmung im Hinblick auf Art. 100 c) EPÜ gegeben, indem er auf die Einwände des Einsprechenden geantwortet habe. Dies war jedoch nicht ausreichend, um diesen Einspruchsgrund zuzulassen. Auch wenn der Patentinhaber irgendwann inhaltlich auf den neuen Grund eingegangen ist, kann dies nicht als implizites oder bindendes Indiz dafür ausgelegt werden, dass er der Einführung dieses Grunds in das Beschwerdeverfahren zustimmt.
Wenn eine Beschwerde allerdings keinen Zusammenhang mit der Begründung der angefochtenen Entscheidung (mangelnde erfinderische Tätigkeit) aufweist und sich, gestützt auf eine neue Entgegenhaltung, nur auf einen neuen Einspruchsgrund (mangelnde Neuheit) bezieht, widerspricht dies den in G 9/91 und G 10/91 (ABl. 1993, 408 und 420) aufgestellten Grundsätzen, wonach der rechtliche und faktische Rahmen bei einer Beschwerde derselbe sein muss wie beim Einspruchsverfahren. Sie kommt einem neuen Einspruch gleich und ist somit unzulässig (T 1007/95, ABl. 1999, 733).
In T 27/13 stellte die Kammer fest, dass die Beanstandung unter Art. 83 EPÜ in der Beschwerdebegründung einen neuen Einspruchsgrund gemäß Art. 100 b) EPÜ darstellte, der außerhalb des rechtlichen Rahmens des Einspruchsverfahrens fiel. Die Kammer wies darauf hin, dass sie die Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde nur dann bejahen kann, wenn bei Einreichung der Beschwerde der gleiche Einspruchsgrund zugrunde gelegt wird. Erst dann kann die Diskussion über die potenzielle Einführung eines neuen, zusätzlichen Einspruchsgrundes stattfinden. Die Beschwerde war daher unzulässig.
In T 1029/14 hatte der Beschwerdeführer das Argument, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht erfinderisch, erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebracht, und zwar zwei Arbeitstage vor der mündlichen Verhandlung. Dieser Einwand wurde gemäß Art. 13 (3) VOBK 2007 nicht zum Verfahren zugelassen. Die Kammer stellte ferner infrage, ob der von D1 als nächstliegendem Stand der Technik ausgehende Angriff im Beschwerdeverfahren ohne Zustimmung des Patentinhabers überhaupt erörtert werden könne. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass der auf D1 basierende Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit keinen neuen Einspruchsgrund darstelle und im Beschwerdeverfahren ohne Zustimmung des Patentinhabers geprüft werden könne, weil D1 bereits für einen Neuheitsangriff herangezogen worden sei. Die Kammer verwies auf den ähnlichen Fall T 448/03, wo die erfinderische Tätigkeit im Einspruchsverfahren überhaupt nicht und dann erstmals im Beschwerdeverfahren erörtert wurde. In T 448/03 wurde entschieden, dass ein Einwand betreffend die erfinderische Tätigkeit als neuer Grund zu betrachten ist, wenn er im Beschwerdeverfahren zum ersten Mal erhoben wird, unabhängig davon, ob das für den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit herangezogene Dokument dasselbe ist, das zuvor für den Neuheitseinwand verwendet wurde.
In T 184/17 befand die Kammer, dass ein Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit, auch wenn er weder in der Einspruchsschrift erhoben und begründet noch im Einspruchsverfahren erörtert wurde, ausnahmsweise ohne die Zustimmung des Patentinhabers im Beschwerdeverfahren geprüft werden kann, wenn er im Tatsachen- und Beweisrahmen eines Neuheitseinwands bleibt, der in der Einspruchsschrift ordnungsgemäß vorgebracht und begründet wurde. Dies bedeutet nicht, dass der vom gleichen Stand der Technik ausgehende Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit stets implizit in einem ordnungsgemäß begründeten Neuheitseinwand enthalten ist. Dies gilt ausschließlich für Fälle wie den vorliegenden, in dem zunächst im Einspruchsverfahren auf der Grundlage eines bestimmten Dokuments und darin zitierter Passagen ein wirksamer Neuheitseinwand vorgebracht wurde, und dann im Beschwerdeverfahren allein auf der Grundlage dieses Dokuments und dieser Passagen ein Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhoben wird, wobei die Tatsachen und Beweismittel im Wesentlichen identisch sind.
- T 77/18
Catchword:
The respondent's requests regarding the ground for opposition under Article 100 c) EPC confront the Board with the issue of admittance of a new ground for opposition which was raised during the oral proceedings before the opposition division but had deliberately not been decided upon by the opposition division. In the absence of a positive decision on admittance by the opposition division, the Board considers that the ground for opposition under Article 100 c) EPC should be treated as a fresh ground at the appeal stage and its admittance should be governed by the principles set forth in G 10/91, which require the proprietor's consent for its introduction in the appeal proceedings. In view of the appellant's refusal thereto, the ground for opposition under Article 100 c) is not to be introduced in the appeal proceedings.
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache