5. Verbot der Doppelpatentierung
In G 1/05 date: 2007-06-28 (ABl. 2008, 271) und G 1/06 (ABl. 2008, 307) befasste sich die Große Beschwerdekammer mit der Einhaltung von Art. 76 (1) EPÜ. In diesem Zusammenhang erkannte sie an, dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots darauf basiert, dass der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren hat, das zur Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand führt, für den er bereits ein Patent besitzt. Daher hatte die Große Beschwerdekammer nichts gegen die ständige Praxis des EPA einzuwenden, Änderungen in einer Teilanmeldung zu beanstanden und zurückzuweisen, wenn in der geänderten Teilanmeldung derselbe Gegenstand beansprucht wird wie in einer anhängigen Stammanmeldung oder einem erteilten Stammpatent.
Einige Technische Kammern haben versucht, die Rechtsgrundlage für dieses Verbot im EPÜ festzumachen, und zwar in Art. 125 EPÜ (s. T 2461/10, wo betont wurde, dass das "legitime Interesse" zu den in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts gehört; s. auch T 2563/11; s. jedoch T 307/03, ABl. 2009, 422 und T 1423/07) oder in Art. 60 EPÜ (T 307/03; s. jedoch T 1423/07 und T 2461/10). Wie in T 2461/10 angemerkt, enthält das EPÜ nur in Bezug auf das Verhältnis von europäischen zu nationalen Patentanmeldungen oder Patenten eine Vorschrift zum Doppelpatentierungsverbot (Art. 139 (3) EPÜ). Siehe die Zusammenfassungen einiger dieser Entscheidungen in diesem Kapitel II.F.5.3. In T 318/14 date: 2019-02-07 (ABl. 2020, A104) wurden der Großen Beschwerdekammer Rechtsfragen in Bezug auf die Rechtsgrundlage für das Doppelpatentierungsverbot vorgelegt.
In G 4/19 (ABl. 2022, A24) entschied die Große Beschwerdekammer, dass eine europäische Patentanmeldung nach Art. 97 (2) und Art. 125 EPÜ zurückgewiesen werden kann, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Art. 54 (2) und (3) EPÜ gehört. Sie befand auch, dass die Anmeldung auf dieser Rechtsgrundlage zurückgewiesen werden kann, unabhängig davon, ob sie a) am Anmeldetag oder b) als frühere Anmeldung oder Teilanmeldung (Art. 76 (1) EPÜ) zu oder c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Art. 88 EPÜ) der europäischen Patentanmeldung eingereicht worden ist, die zu dem bereits erteilten europäischen Patent geführt hat.
Vor dem Hintergrund ihrer Auslegung der Vorlagefragen erläuterte die Große Beschwerdekammer, Frage 1 laute im Kern: Gibt es im EPÜ eine Rechtsgrundlage dafür, eine Anmeldung wegen Doppelpatentierung zurückzuweisen? In diesem Zusammenhang machte sich die Große Beschwerdekammer die von der vorlegenden Kammer getroffene enge Auslegung des Begriffs "Doppelpatentierung" zu eigen (T 318/14 date: 2019-02-07, Nrn. 17 bis 23 der Gründe, zusammengefasst in Kapitel II.F.5.1). Frage 2.1 laute im Kern: Wenn es eine Rechtsgrundlage im EPÜ für das Verbot der Doppelpatentierung gibt, sind dann alle drei möglichen Konstellationen, in denen es zu Doppelpatentierung kommen kann (d. h. Konstellationen, in denen das erteilte Patent und die Anmeldung dasselbe wirksame Datum haben, s. o. Kapitel II.F.5.1), gleich zu behandeln? Die Große Beschwerdekammer prüfte zuerst Art. 125 EPÜ als mögliche Rechtsgrundlage für das Verbot der Doppelpatentierung. Unter Heranziehung der Grundsätze für die Vertragsauslegung gemäß Art. 31 (1) und (2) WÜRV analysierte sie den Begriff "Vorschrift über das Verfahren" in Art. 125 EPÜ im Zusammenhang der Vorschriften in Kapitel I des siebenten Teils des EPÜ. Sie merkte an, dass dieses Kapitel auch Art. 123 (2) und (3) EPÜ enthält, und schloss, dass eine Vorschrift, die unter Art. 125 EPÜ fällt, auch Aspekte abdecken könne, die materiellrechtliche Fragen berühren. Die Große Beschwerdekammer befasste sich dann mit der Frage, ob das Verbot der Doppelpatentierung ein allgemein anerkannter Grundsatz in der Praxis der Vertragsstaaten ist. Ihr lägen keine Daten vor, auf deren Grundlage sie die Praxis in allen oder zumindest in der Mehrheit der Vertragsstaaten mit Sicherheit ermitteln könne. In einem nächsten Schritt untersuchte die Große Beschwerdekammer die Auswirkungen des obiter dictum in G 1/05 date: 2007-06-28 und G 1/06 (ABl. 2008, 271 und 307). Da die Große Beschwerdekammer in G 1/05 date: 2007-06-28 und G 1/06 nicht erklärt habe, dass sie ein legitimes Interesse am Verfahren für einen allgemein anerkannten Grundsatz des Verfahrensrechts erachte, und in Anbetracht des spezifischen Zusammenhangs der Erklärung zur Doppelpatentierung in diesen Entscheidungen befand die Große Beschwerdekammer (in G 4/19) es für unangebracht, das Doppelpatentierungsverbot auf das obiter dictum in diesen früheren Entscheidungen zu stützen.
Die Große Beschwerdekammer erachtete es für erforderlich, die vorbereitenden Dokumente zum EPÜ – als ergänzende Auslegungsmittel im Sinne des Art. 32 WÜRV – heranzuziehen, um die Bedeutung des Art. 125 EPÜ im Hinblick auf die Doppelpatentierung zu bestimmen. Aus den vorbereitenden Dokumenten gehe hervor, dass die in den Berichten der Münchner Diplomatischen Konferenz im Zusammenhang mit Art. 125 EPÜ vermerkte mehrheitliche Übereinkunft als Ausdruck der endgültigen und unveränderten Absicht des Gesetzgebers in der Frage der Doppelpatentierung betrachtet werden könne. Aus dem Wortlaut des Art. 125 EPÜ und der ausdrücklichen Nennung der Übereinkunft im Sitzungsbericht im Zusammenhang mit diesem Artikel lasse sich klar ableiten, dass die (potenziellen) Vertragsstaaten übereinkamen, dass das Verbot der Doppelpatentierung ein allgemein anerkannter Grundsatz des Verfahrensrechts in den Vertragsstaaten und als solcher nach Art. 125 EPÜ anwendbar ist. Angesichts dieser Feststellungen erübrigte es sich für die Große Beschwerdekammer, die anderen als geeignete Rechtsgrundlage für das Verbot der Doppelpatentierung vorgeschlagenen Bestimmungen zu prüfen. Hinsichtlich der Fragen 2.1 und 2.2 leitete die Große Beschwerdekammer aus den vorbereitenden Dokumenten ab, dass alle drei möglichen Konstellationen, in denen es zu Doppelpatentierung kommen kann, gleich zu behandeln seien.