6. Rechtliches Gehör im Einspruchsverfahren
R. 82 (1) EPÜ (R. 58 (4) EPÜ 1973) sieht vor, dass die Einspruchsabteilung bei der Prüfung des Einspruchs den Beteiligten mitteilt, in welchem Umfang sie das Patent aufrechtzuerhalten beabsichtigt, und sie auffordert, innerhalb von zwei Monaten Stellung zu nehmen, wenn sie mit der Fassung nicht einverstanden sind. Mit der Frage, inwieweit die Zustellung einer solchen Mitteilung als erforderlich anzusehen ist, haben sich die Beschwerdekammern mehrmals auseinandergesetzt.
In T 219/83 (ABl. 1986, 211) und T 185/84 (ABl. 1986, 373) wies die Kammer darauf hin, dass eine Mitteilung nach R. 58 (4) EPÜ 1973 (R. 82 (1) EPÜ) in einem Einspruchsbeschwerdeverfahren nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung nur dann erforderlich ist, wenn den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung eine abschließende sachliche Stellungnahme zu der Änderung des europäischen Patents nicht zuzumuten ist (bestätigt in z. B. T 75/90, T 895/90, T 570/91).
In T 446/92 wurde ausgeführt, die Entscheidung der Kammer, das Streitpatent im geänderten Umfang gemäß einem im Verlauf der mündlichen Verhandlung vorgelegten Antrag des Patentinhabers aufrechtzuerhalten, könne im Fall eines ordnungsgemäß geladenen Einsprechenden, der bei der mündlichen Verhandlung nicht vertreten ist, trotzdem gemäß R. 68 (1) EPÜ 1973 (R. 111 (1) EPÜ) am Ende dieser mündlichen Verhandlung verkündet werden, wenn im Verlauf der mündlichen Verhandlung keine neuen Tatsachen und Beweismittel erörtert werden. Unter diesen Umständen könne auf die Anwendung von R. 58 (4) EPÜ 1973 (R. 82 (1) EPÜ) verzichtet werden, weil das Streitpatent mit einer vom Patentinhaber vorgelegten und gebilligten geänderten Fassung aufrechterhalten wird (s. in dieser Hinsicht G 1/88, ABl. 1989, 189). Außerdem könne die Entscheidung des Einsprechenden, freiwillig auf seine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zu verzichten, gleichermaßen als stillschweigender Verzicht auf sein Recht auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 113 (1) und R. 58 (4) EPÜ 1973 (R. 82 (1) EPÜ) angesehen werden.
In T 29/16 entschied die Kammer, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel vorlag, weil die Einspruchsabteilung gegen R. 82 (1) EPÜ verstoßen hatte, die nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall das Gebot des rechtlichen Gehörs näher definierte. Indem die Einspruchsabteilung den Einsprechenden nicht aufgefordert hatte, zu der Fassung Stellung zu nehmen, in der sie das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten beabsichtigte, hatte sie dessen Recht auf rechtliches Gehör verletzt.