2.3. Überraschende Gründe
Gemäß Art. 113 (1) EPÜ dürfen Entscheidungen nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
Laut Großer Beschwerdekammer (s. Kapitel V.B.4.3.8 "Angeblich überraschende Entscheidungsbegründung") impliziert dies, dass ein Beteiligter in der Entscheidungsbegründung nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel überrascht werden darf (R 3/13; s. auch T 1378/11). Eine rein subjektive Überraschung jedoch hat nichts damit zu tun, ob ein Beteiligter ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme hatte. Die "Gründe" im Sinne des Art. 113 (1) EPÜ müssen nicht von der Kammer kommen, es genügt, wenn ein anderer Beteiligter den Einwand erhoben hat (R 2/08). Wenn die Begründung in einer Entscheidung einem Argument entspricht, das die Gegenpartei vorgebracht hat (s. auch T 405/94), so war sie dem Antragsteller bekannt, und er wurde damit nicht überrascht (R 4/08, R 12/09 vom 15. Januar 2010 date: 2010-01-15, R 8/14), es sei denn, die Kammer hätte deutlich erklärt, dass sie die Argumente für nicht überzeugend hielt (R 11/12).
In T 996/09 stellte die Kammer fest, dass das rechtliche Gehör für die Beteiligten ein wichtiger Garant dafür ist, dass Verfahren vor dem EPA fair und offen durchgeführt werden (mit Verweis auf J 20/85 und J 3/90), und sicherstellen soll, dass die Verfahrensbeteiligten von den Gründen für eine Entscheidung zu ihren Ungunsten nicht überrascht werden (im Anschluss an T 669/90, T 892/92, T 594/00 und T 343/01; s. auch T 197/88, T 220/93). In T 435/07 stellte die Kammer fest, dass die Gründe, auf die eine Entscheidung gestützt ist, den Anmeldern so bekanntzugeben sind, dass es diesen möglich ist, ihre Rechte zu verteidigen. Ein Einwand gegen eine Patenterteilung muss so erhoben werden, dass die Anmelder die ihm zugrunde liegenden Tatsachen nachvollziehen und entsprechend reagieren können, ohne erst mutmaßen zu müssen, was die Prüfungsabteilung wohl im Sinn gehabt haben mag.
Obwohl Beteiligte von der Entscheidungsbegründung nicht überrascht werden dürfen, ist es ständige Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer nach Art. 112a EPÜ, dass die Beschwerdekammern den Verfahrensbeteiligten nicht vorab alle Argumente mitteilen müssen, die voraussichtlich für oder gegen einen Antrag sprechen. Mit anderen Worten haben Beteiligte keinen Anspruch darauf, vorab Einzelheiten zu allen Entscheidungsgründen zu erfahren (s. Kapitel V.B.4.3.5 "Keine Verpflichtung, eine Entscheidung im Voraus eingehend zu begründen"). In T 1634/10, T 2405/10, T 1378/11 und T 1090/18 wandten die Kammern diese Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer nach Art. 112a EPÜ explizit auf das erstinstanzliche Verfahren an.
In T 1065/16 war der Einspruchsgrund der mangelnden Ausführbarkeit bis zur mündlichen Verhandlung nicht Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Es handelte sich also um einen neuen Einspruchsgrund und seine Einführung kam überraschend. Da der Beschwerdeführer I keine ausreichende Gelegenheit erhalten hatte, sich zu diesem neuen Einspruchsgrund zu äußern, hat die Einspruchsabteilung gegen Art. 113 (1) EPÜ verstoßen, sodass das Verfahren mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet war.
In T 2351/16 befand die Kammer Folgendes: dass die Prüfungsabteilung eine Zurückweisungsentscheidung nach einem einzigen Bescheid gemäß Art. 94 (3) EPÜ erlassen hatte, verletzt an sich nicht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (s. auch Kapitel IV.B.2.3. "Zurückweisung nach einem einzigen Bescheid"). Allerdings hatte die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung (erstmals) ein zusätzliches Argument geltend gemacht, das ihren Einwand stützte, und zwar im Anschluss an die Erwiderung des Anmelders auf den Bescheid nach Art. 94 (3) EPÜ. Dies stellte eine Verletzung des Anspruchs des Anmelders auf rechtliches Gehör und damit einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
- T 17/22
Catchword: see point 1.2.2 of the reasons.
- T 1564/18
Catchword:
Since neither the annex to the summons nor any of the previous communications of the examining division contained the essential legal and factual reasons leading to the finding in the appealed decision that claim 1 of the main request lacked novelty over the prior-art device considered for the first time in the novelty assessment of the refusal, and since no reason was given why the amendments made in advance of the oral proceedings held in absentia justified the change to this new closest prior art, the decision was issued in violation of the right to be heard even though the prior-art device on which the refusal was based was disclosed in the same document as a closest prior art considered previously in the examination procedure.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”