4.3. Artikel 112a (2) c) EPÜ – angeblicher schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ
In R 17/13 erklärte die Große Bescherdekammer, dass das rechtliche Gehör des Betreffenden nicht verletzt ist, wenn ein Beteiligter der Kammer mitteilt, dass er nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde, und die Sache dann in seiner Abwesenheit entschieden wird.
In R 16/12 befand die Große Bescherdekammer, dass der Grundsatz der Verfahrensökonomie es gebietet, dass eine Beschwerdekammer sich auf die entscheidungserheblichen Fragen konzentriert. Kann ein Fall auf der Grundlage der ausreichenden Offenbarung entschieden werden, so wäre die Erörterung anderer Gründe wie etwa erfinderische Tätigkeit ein obiter dictum.
In R 4/12 stellte die Große Bescherdekammer fest, dass die Behauptung des Antragstellers, er habe während der Verhandlungspause von einem Dritten, der sich als jener Prüfer vorgestellt habe, der die Entscheidung erlassen habe, erfahren, dass seine Beschwerde zurückgewiesen werde, für eine angebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs irrelevant ist.
In R 21/09 hielt die Große Bescherdekammer fest, dass nationale Urteile und in nationalen Verfahren vorgelegte Schriftstücke in das Beschwerdeverfahren eingebracht werden können. Die Zulassung derartiger Schriftstücke als Beweismittel – die der freien Würdigung durch die Kammer unterliegen – verletzt an sich das rechtliche Gehör nicht.
In R 10/08 erklärte die Große Beschwerdekammer, dass, wenn der Vorsitzende von dem in Art. 15 (5) VOBK 2007 vorgesehenen Verfahren abwich, weil er die Anträge nicht vor Beendigung der Debatte feststellte, sich dies im vorliegenden Fall nicht auf den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ auswirkte, da dieser ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu den Gründen und Beweismitteln zu äußern, auf die sich die Entscheidung der Beschwerdekammer stützte.
In R 3/08 (unter Verweis auf G 4/95, ABl. 1996, 412) stellte die Große Bescherdekammer fest, dass die Zulassung von mündlichen Ausführungen einer Begleitperson im Ermessen des EPA liegt. Sie fügte hinzu, dass die Ablehnung des – kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellten – Antrags, das mündliche Vorbringen einer Begleitperson zu gestatten (das einen Dolmetscher erfordert hätte), kein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ ist.
- R 12/22
Zusammenfassung
Der Antrag auf Überprüfung in R 12/22 wurde darauf gestützt, dass die angefochtene Entscheidung in mehrfacher Hinsicht mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet sei, und – ebenfalls in mehrfacher Hinsicht – ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 EPÜ vorliege.
Die Große Beschwerdekammer (GBK) erörterte zunächst, dass ein Verstoß gegen die Begründungspflicht nach R. 102 g) EPÜ nicht von Art. 112a (2) d) EPÜ erfasst sei. Sie verwies auf die in R 10/18 und R 10/20 dargelegten Grundsätze zum Umfang der Begründungspflicht. Die von der Antragstellerin zitierte Aussage aus der Kommentarliteratur, das Korrelat zum Äußerungsrecht nach Art. 113 (1) EPÜ bilde die Pflicht, die Entscheidungen zu begründen, müsse im Einklang mit diesen Grundsätzen stehen. Eine Behandlung des Geäußerten in den Entscheidungsgründen sei nur unter den in R 10/18 und R 10/20 dargelegten Voraussetzungen vom Recht auf rechtliches Gehör gefordert. Hingegen beinhalte das Recht auf rechtliches Gehör neben dem Äußerungsrecht das Recht auf Berücksichtigung des Geäußerten. Wenn ein Schlagwort zur Charakterisierung dieser Beziehung als nützlich empfunden werden sollte, dann würde sich der Kammer zufolge der Begriff "Korrelat" hier eignen.
Zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln gemäß Art. 112a (2) d) EPÜ, stellte die GBK fest, dass die Antragstellerin sich weder auf das Übergehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung (R. 104 a) EPÜ) noch eines sonstigen relevanten Antrags im Verfahren (R. 104 b) EPÜ) berufen hatte, weshalb der Überprüfungsantrag diesbezüglich für unbegründet befunden wurde.
Zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln gemäß Art. 112a (2) c) EPÜ, befand die GBK unter anderem Folgendes:
G 1/21 habe klargestellt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz grundsätzlich keinen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör bedeute. Die Auffassung der Antragstellerin, eine nur theoretische Möglichkeit verschlechterter Kommunikation und Austauschmöglichkeit stelle bereits einen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ dar, stehe in diametralem Gegensatz zu G 1/21. In Bezug auf Art. 15a VOBK betonte die GBK, dass eine unzutreffende Ermessensausübung zugunsten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz mangels Einfluss auf das Recht auf rechtliches Gehör keinen Verstoß gegen dieses Recht begründen könne, wenn ein konkreter praktischer Mangel weder behauptet noch ersichtlich sei.
In Bezug auf die beanstandete Zulassung des Vortrags einer Begleitperson stellte die GBK klar, dass es auf einen abstrakten Verstoß gegen die in G 4/95 aufgestellten Zulassungsvoraussetzungen bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Recht auf rechtliches Gehör nicht ankommen könne. Denn letzteres Recht beziehe sich auf die Möglichkeit, auf den Inhalt konkreter Äußerungen angemessen reagieren zu können, nicht auf das Recht, diesen Inhalt durch eine zum umfassenden Vortrag berechtigte und von einem zugelassenen Vertreter hierbei beaufsichtigte Begleitperson präsentiert zu bekommen.
In Bezug auf den geltend gemachten Verstoß gegen Art. 113 EPÜ infolge der kurzfristigen Umbesetzung der zuständigen Beschwerdekammer stellte die GBK unter anderem fest, dass aus dem Recht auf rechtliches Gehör kein Recht eines Beteiligten auf einen Nachweis folge, dass ein Kammermitglied ausreichend vorbereitet ist, weder im Falle einer kurzfristigen Einwechslung noch generell. Denn die Ausübung eines solchen Rechts würde gegen die Unabhängigkeit des betroffenen Beschwerdekammermitglieds verstoßen.
Zu dem geltend gemachten Verstoß gegen Art. 113 EPÜ infolge einer "fehlerhaften und widersprüchlichen Beurteilung" des streitpatentgemäßen Gegenstands, stellte die GBK klar, dass dies nur dann beanstandet werden könnte, wenn die Widersprüche gleichbedeutend damit wären, dass die Kammer das Vorbingen in den Entscheidungsgründen nicht behandelt hätte und dieses objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles gewesen wäre. Dass die widersprüchliche Begründung gleichbedeutend mit einer Nicht-Begründung ist, müsse sich aufdrängen.
Der Antrag auf Überprüfung wurde folglich als offensichtlich unbegründet verworfen.