1.3. Fristverlängerungen von Rechts wegen bei Feiertagen oder Störungen bei der Postzustellung (Regel 134 EPÜ)
R. 134 (2) EPÜ sieht eine Fristverlängerung vor, wenn die Frist an einem Tag abläuft, an dem die Zustellung oder Übermittlung der Post in einem Vertragsstaat oder zwischen einem Vertragsstaat und dem EPA allgemein gestört ist. Die Dauer der Störung der Postzustellung oder -übermittlung wird vom Europäischen Patentamt bekannt gemacht. Bei der Überarbeitung von R. 85 (2) EPÜ 1973 wurde der Begriff der "allgemeinen Unterbrechung" gestrichen. Ausweislich der vorbereitenden Dokumente erfasst aber der beibehaltene Begriff der "Störung" auch Unterbrechungen (CA/PL 17/06, S. 356). Im Folgenden werden auch die Entscheidungen, die den Begriff der "allgemeinen Unterbrechung" auslegen nach wie vor wiedergegeben, da sie eine Hilfestellung für die Auslegung der "allgemeinen Störung" in R. 134 (2) EPÜ darstellen könnten.
In J 10/20 hielt die Kammer fest, dass R. 134 (2) EPÜ nicht zwischen gesetzlichen Fristen und von einer erstinstanzlichen Abteilung oder einer Beschwerdekammer festgelegten Fristen unterscheidet. Ihr Anwendungsbereich ist daher nicht auf die einen oder die anderen begrenzt. So kann auch die Frist zur Einreichung der Beschwerdebegründung nach dieser Vorschrift verlängert werden. Sind die Erfordernisse der R. 134 (2) EPÜ erfüllt, so wird jede Frist, die während der Dauer einer Unterbrechung oder Störung abläuft, von Rechts wegen verlängert (in Bezug auf R. 85 EPÜ 1973 s. J 11/88). Die Mitteilungen des Europäischen Patentamts über Störungen aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 (s. z. B. die Mitteilung vom 1. Mai 2020, ABl. 2020, A60) beziehen sich auf "die durch den Ausbruch von COVID-19 bedingten Störungen". R. 134 (2) EPÜ bezieht sich aber nicht auf eine allgemeine Störung als solche, sondern darauf, dass "die Zustellung oder Übermittlung der Post … allgemein gestört war". Die Mitteilungen des EPA gingen nicht darauf ein, ob die Zustellung oder Übermittlung der Post in Deutschland allgemein gestört war. Es ist daher wahrscheinlich, dass diesen Mitteilungen eine Anwendung der R. 134 (2) EPÜ per Analogie zugrunde gelegt wurde. Von Nutzern und Vertretern konnte nicht erwartet werden, dass sie ohne erkennbaren Grund Erklärungen zur Verlängerung von Fristen infrage stellten, die in Veröffentlichungen gemäß R. 134 (4) EPÜ bekannt gemacht wurden. Selbst wenn die Zustellung oder Übermittlung der Post nicht allgemein gestört war, konnten die Nutzer auf derartige Bekanntmachungen vertrauen, ohne dadurch Nachteile zu erleiden.
In T 1678/17 nahm der Beschwerdeführer seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurück und beantragte eine teilweise Rückzahlung der Beschwerdegebühr. Dies geschah zwar nicht innerhalb eines Monats ab Zustellung der von der Beschwerdekammer erlassenen Mitteilung, doch im Hinblick auf die Mitteilung des Europäischen Patentamts vom 1. Mai 2020 über Störungen aufgrund des Ausbruchs von COVID-19 (ABl. 2020, A60) und auf R. 134 (2) und (4) EPÜ hielt die Kammer die in R. 103 (4) c) EPÜ festgelegten Voraussetzungen für eine 25%ige Rückzahlung der Beschwerdegebühr für erfüllt.
In J 11/88 (ABl. 1989, 433) stellte die Kammer fest, dass sich jede Frist des EPÜ 1973, die innerhalb des Unterbrechungs- oder Störungszeitraums ablaufe, von Rechts wegen verlängere. Wenn also der Präsident des EPA keine Verlautbarung über die Dauer dieses Zeitraums bekannt gebe, weil ihm die erforderlichen Informationen nicht rechtzeitig vorgelegen hätten, so berühre dies nicht die Rechte der durch die Unterbrechung oder Störung beschwerten Personen. Die Frage, ob eine Unterbrechung als "allgemeine Unterbrechung" gilt, sei eine Tatfrage, die anhand aller verfügbaren, glaubwürdigen Informationen geklärt werden müsse; im Zweifelsfall sollte das EPA gemäß Art. 114 (1) EPÜ 1973 den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln.
In J 4/87 (ABl. 1988, 172) hat die Kammer bestätigt, dass im Falle einer unvorhergesehenen Verzögerung bei der Postzustellung, die eine Fristversäumung zur Folge hat, das EPA nicht zu einer Fristverlängerung befugt ist, wenn diese nicht unter R. 85 (2) EPÜ 1973 fällt.
In J 3/90 (ABl. 1991, 550) legte die Juristische Beschwerdekammer den Begriff der allgemeinen Unterbrechung aus. Sie führte aus, dass R. 85 (2) EPÜ 1973 nicht nur bei einer Unterbrechung anwendbar sei, die das gesamte Staatsgebiet betreffe. Im vorliegenden Fall entschied die Kammer, dass eine Unterbrechung durch ihre begrenzte geografische Ausdehnung ihren allgemeinen Charakter nicht verliere. Ob ein Vertreter den Auswirkungen eines Streiks hätte ausweichen können, sei aber für die Anwendung von R. 85 (2) EPÜ 1973 kein Kriterium.
Auch in J 1/93 bestätigte die Juristische Beschwerdekammer, dass gemäß R. 85 (2) EPÜ 1973 ein maßgebliches Kriterium für eine allgemeine Unterbrechung der Postzustellung darin bestehe, dass die breite Öffentlichkeit in einem Gebiet, das eine gewisse Bedeutung habe, auch wenn seine geografische Ausdehnung begrenzt sei, betroffen gewesen sein müsse. Der Verlust eines einzelnen Postsacks treffe zwar möglicherweise eine Reihe einzelner Empfänger, nicht aber die breite Öffentlichkeit.
In J 14/03 bestätigte die Kammer, dass vom Beschwerdeführer vorgelegtes Beweismaterial für eine Unterbrechung der Postzustellung im Sinne von R. 85 (2) EPÜ 1973 im Einzelfall, wie in J 11/88, zu einer rückwirkenden Fristverlängerung führen könne, wenn es, wäre es zum fraglichen Zeitpunkt bekannt gewesen, eine Mitteilung des Präsidenten des EPA nach R. 85 (2) EPÜ 1973 gerechtfertigt hätte. Im Gegensatz zur Beweiskraft der Nachweise in J 11/88 waren die Beweismittel im vorliegenden Fall aber nicht stichhaltig.