7.3. Format mündlicher Verhandlungen
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Die Kammer in T 1807/15 date: 2021-03-12 hat die Große Beschwerdekammer mit der folgenden Rechtsfrage befasst: Ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit dem in Art. 116 (1) EPÜ verankerten Recht auf mündliche Verhandlung vereinbar, wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz erklärt haben?
Diese Frage beantwortete die Große Beschwerdekammer in G 1/21 date: 2021-07-16 vom 16. Juli 2021 (ABl. 2022, A49) wie folgt: In einem allgemeinen Notfall, der die Möglichkeit der Beteiligten einschränkt, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen, ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer in Form einer Videokonferenz mit dem EPÜ vereinbar, auch wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in dieser Form erklärt haben. Die Große Beschwerdekammer erachtete es für gerechtfertigt, den Umfang der Vorlagefrage auf mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern zu beschränken und den besonderen Rahmen der Vorlage, nämlich einen allgemeinen Notfall (die COVID-19-Pandemie), zu berücksichtigen.
Die Große Beschwerdekammer legte Art. 116 EPÜ dahin gehend aus – unter Einbeziehung insbesondere des Sinn und Zwecks der mündlichen Verhandlung, nämlich den Parteien die Gelegenheit zu geben ihre Argumente mündlich vorzutragen, dass eine in Form einer Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung eine mündliche Verhandlung im Sinne des Art. 116 EPÜ ist. Die Große Beschwerdekammer befand, selbst wenn das Format der Videokonferenz bestimmte Nachteile habe, so biete es den Beteiligten dennoch die Gelegenheit, ihre Argumente mündlich zu präsentieren.
Dann ging die Große Beschwerdekammer darauf ein, ob eine Videokonferenz einer Präsenzverhandlung gleichwertig ist und ob sie ein geeignetes Format zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist. Sie räumte ein, dass eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung – zumindest zum damaligen Zeitpunkt – nicht die gleichen Kommunikationsmöglichkeiten bot wie eine Präsenzverhandlung, bei der alle Beteiligten persönlich in einem Gerichtssaal anwesend sind. Die Große Beschwerdekammer folgerte, dass die Einschränkungen die seinerzeit mit der Verwendung der Videotechnologie einhergingen dazu führten, dass dieses Format für die mündliche Verhadlung suboptimal war, jedoch im Normalfall nicht in einem solchen Ausmaß, dass das Recht auf rechtliches Gehör einer Partei oder das Recht auf ein faires Verfahren dadurch ernsthaft beeinträchtigt würde.
Als Nächstes setzte sich die Große Beschwerdekammer mit der Frage auseinander, ob ein Beteiligter ein Recht auf eine mündliche Präsenzverhandlung hat. Der Wunsch nach einer mündlichen Präsenzverhandlung kann den Beteiligten nur mit gutem Grund verwehrt werden. Erstens muss es eine geeignete Alternative geben. Ist im konkreten Einzelfall das Format der Videokonferenz ungeeignet, muss die mündliche Verhandlung als Präsenzverhandlung durchgeführt werden. Zweitens müssen zudem die Umstände im konkreten Einzelfall die Entscheidung rechtfertigen, die mündliche Verhandlung nicht als Präsenzverhandlung durchzuführen. Diese Umstände sollten sich auf Einschränkungen und Behinderungen beziehen, die einen Beteiligten daran hindern, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen. Im Falle einer Pandemie können solche Umstände allgemeine Reisebeschränkungen oder die Unterbrechung von Reiseverbindungen, Quarantäneauflagen, Zugangsbeschränkungen in den EPA-Gebäuden und andere gesundheitsbezogene Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheitsausbreitung sein. Drittens muss die Entscheidung, ob gute Gründe es rechtfertigen, der Präferenz eines Beteiligten für die Durchführung als mündliche Präsenzverhandlung nicht nachzukommen, dem Ermessen der Beschwerdekammer anheimgestellt sein.
Zur Anwendbarkeit der Begründung von G 1/21 date: 2021-07-16 auf mündliche Verhandlungen in einem allgemeinen Notfall siehe in diesem Kapitel III.C.7.3.4. Zur Anwendbarkeit der Begründung von G 1/21 date: 2021-07-16 auf mündliche Verhandlungen über einen allgemeinen Notfall hinaus siehe in diesem Kapitel III.C.7.3.3.