5.10. Spätes Vorbringen von neuen Argumenten und Angriffslinien
In einigen Entscheidungen befanden die Kammern, dass neue Argumente, die ohne angemessene Erklärung bzw. Rechtfertigung erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen werden, als verspätet anzusehen und nicht in das Verfahren zuzulassen sind (T 1069/08, T 775/09, T 1621/09, T 810/12).
In T 1621/09 gestattete die Kammer es dem Beschwerdeführer in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 VOBK 2007 nicht, sein Vorbringen zu ändern, unter anderem, weil das neue Argument auf eine Neuausrichtung des Vorbringens zur Neuheit hinauslief und im letzten Stadium des Beschwerdeverfahrens, nämlich während der mündlichen Verhandlung, vorgebracht worden war.
In T 1069/08 beantragte der Beschwerdeführer (Einsprechende) erst in der mündlichen Verhandlung, seine Argumente zum Nicht-Naheliegen des beanspruchten Gegenstands vorbringen zu dürfen. Diesem Antrag gab die Kammer nicht statt. Ihrer Auffassung nach hätte der Beschwerdeführer in Betracht ziehen können, ja sogar müssen, dass die Beschwerdekammer in Bezug auf Art. 100 b) EPÜ möglicherweise zu demselben Ergebnis kommt wie die Einspruchsabteilung. Wenn er gewollt hätte, dass die Kammer ein neues Argument berücksichtigt, so hätte er dieses spätestens in seiner Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer vortragen müssen.
Auch in T 1761/10 beschloss die Kammer, den neuen, vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Angriff auf die erfinderische Tätigkeit nicht zuzulassen. Dieser warf komplexe neue Fragen auf, und die mündliche Verhandlung hätte vertagt werden müssen, um der Kammer und dem Beschwerdegegner genügend Zeit zu geben, sich mit diesen Fragen zu befassen (s. auch T 1226/12, T 2602/12 und T 1744/14).
In T 1019/13 wurde ein neuer Angriff auf die erfinderische Tätigkeit erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgebracht. Die Einsprechenden hatten bereits im schriftlichen Verfahren mehr als zehn Angriffe auf die erfinderische Tätigkeit vorgetragen, die von unterschiedlichen Dokumentenkombinationen ausgingen. In solch einer Situation konnte vom Patentinhaber nicht auch noch erwartet werden, seine Vorbereitung auf weitere, von neuen Dokumentenkombinationen ausgehende Angriffe auszudehnen, die von den Einsprechenden in der mündlichen Verhandlung vorgetragen werden könnten.
Indem der Einsprechende sich entschieden hatte, bis zur mündlichen Verhandlung zu schweigen und seine auf die Dokumente D10 und D11 gestützten Argumente erst dort vorzubringen, hat er die Gegenpartei und die Kammer überrascht und gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verstoßen (T 647/15).
In T 603/14 machte die Kammer von ihrem Ermessen Gebrauch, den verspätet vorgebrachten Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegenüber D1 und D3 nicht zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer hatte den Einwand zum ersten Mal in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhoben. Die Dokumente waren Teil des Beschwerdeverfahrens. Jedoch waren sie bis dahin nur verwendet worden, um Neuheitseinwände gegen die Ansprüche 1 und 25 zu stützen. Zumindest die Behauptung, dass sie kombiniert miteinander zu mangelnder erfinderischer Tätigkeit führten, war für die Kammer eine neue Tatsache. Der Beschwerdeführer brachte für die späte Einreichung dieser behaupteten neuen Tatsache keine überzeugende Begründung vor. Die Kammer stellte fest, dass mit einer Zulassung des Einwands zu diesem späten Zeitpunkt nicht die gebotene Verfahrenseffizienz gewahrt worden wäre. Selbst wenn man einräumt, dass die zur Stützung eines Neuheitseinwands angeführte Entgegenhaltung D1 auch als Ausgangspunkt für einen Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zugrunde gelegt werden konnte, war von dem anderen Beteiligten nicht zu erwarten, dass er die Aufnahme einer willkürlichen Kombination von D1 und anderen aktenkundigen Dokumenten wie D3 in das Verfahren antizipiert. Im Übrigen ist ein zur Beurteilung der Neuheit nützliches Dokument nicht unbedingt die richtige Wahl als nächstliegender Stand, s. auch T 181/17.
Auch in T 775/09, T 1098/11, T 2091/12, T 46/13, T 221/13, T 419/14, T 988/14, T 73/15 T 392/16, T 1684/18 wurden neue Angriffe auf die erfinderische Tätigkeit nicht zugelassen.
In T 1890/13 war das Dokument D28 ursprünglich mit der Einspruchsschrift eingereicht worden. Es wurde jedoch weder in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung noch in der angefochtenen Entscheidung behandelt. Erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer machte der Beschwerdeführer zum allerersten Mal geltend, dass D28 höchst relevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sei. Die Kammer befand, dass diese neue Argumentation in einem sehr späten Stadium des Gesamtverfahrens vorgetragen worden sei. Sie lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Einführung von D28 in das Beschwerdeverfahren mit folgender Begründung gemäß Art. 13 (1) VOBK 2007 ab: die späte Substanziierung von D28 war keine angemessene und umgehende Reaktion auf unvorhersehbare Entwicklungen, und die Lehre von D28 war prima facie nicht relevanter als die der anderen aktenkundigen Entgegenhaltungen; eine solche neue, auf D28 basierende Argumentation zum Beschwerdeverfahren zuzulassen, würde gegen die Grundsätze der Verfahrensökonomie und der Fairness verstoßen.
In T 1381/15 erkannte die Kammer ein Bündel neuer Beweismittel und Tatsachen(-behauptungen), mit denen ein neuer Einwand der unzureichenden Offenbarung erhoben werden sollte (neuer Angriff). Sie konnte nicht nachvollziehen, inwiefern dieser konkrete Einwand auf bereits im Verfahren befindlichen Tatsachen beruhte (s. T 1914/12). Der neu erhobene und auf den angeblichen Diskrepanzen zwischen der vorliegenden Anmeldung und den Prioritätsunterlagen beruhende Einwand war somit kein bloßes Argument, das jederzeit in das Verfahren eingeführt werden könnte. In Anbetracht des äußerst späten Verfahrensstadiums und der Komplexität des neuen Einwands ließ die Kammer diesen in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (1) VOBK 2007 und Art. 114 (2) EPÜ nicht zum Verfahren zu.
In T 47/18 erhob der Einsprechende Einwände nach Art. 84 und 123 (2) EPÜ erst, nachdem die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung geladen worden waren. Die Kammer stellte fest, dass es sich bei den fraglichen Einwänden um mehr handelte als nur um ein neues Argument (T 1914/12), denn sie gingen über das hinaus, was zur Unterstreichung der rechtzeitig eingereichten Tatsachen, Beweismittel und Gründe dient. Sie basierten vielmehr auf neuen Rechtsgründen (G 4/92, ABl. 1994, 149), die zuvor im Beschwerdeverfahren nicht behandelt worden waren. Die Kammer wies darauf hin, dass es keinen stichhaltigen Grund gab, diese Einwände so spät im Verfahren zu erheben, nämlich erst etwa zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer.
In T 1167/13 hatten die Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung einen Einwand nach Art. 100 b) und 83 EPÜ erhoben, dass der Fachmann die Erfindung nicht im gesamten beanspruchten Bereich ausführen könne. Die Kammer entschied, dass der Einwand erstmalig in der Beschwerdebegründung erhoben worden war und somit eine behauptete neue Tatsache im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ und Art. 12 (4) VOBK 2007 darstellte und kein jederzeit in das Verfahren einführbares Argument.