6.5.6 Feststellung des technischen Charakters
Vormals Abschnitt I.A.2.4.6.b). Dieser Abschnitt wurde aufgrund von Aktualisierungen in vorhergehenden Abschnitten umnummeriert. Am Inhalt dieses Abschnitts wurden keine Änderungen vorgenommen. |
Die Präsidentin des EPA legte der Großen Beschwerdekammer die folgende Rechtsfrage vor (G 3/08 date: 2010-05-12, ABl. 2011, 10; Vorlagefrage 3 a) V): Muss ein beanspruchtes Merkmal eine technische Wirkung auf einen physikalischen Gegenstand in der realen Welt hervorrufen, um einen Beitrag zum technischen Charakter des Anspruchs zu leisten? Den Entscheidungen T 163/85 und T 190/94 zufolge müsse eine technische Wirkung auf einen physikalischen Gegenstand in der realen Welt hervorgerufen werden. Dies sei jedoch in T 125/01 und T 424/03 nicht verlangt worden (s. oben G 3/08 date: 2010-05-12, Frage 3). In diesen Entscheidungen seien die technischen Wirkungen im Wesentlichen auf die jeweiligen Computerprogramme beschränkt gewesen.
In ihrer Stellungnahme G 3/08 date: 2010-05-12 (ABl. 2011, 10) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Ganzen insoweit konsistent ist, dass es alle beanspruchten Merkmale zu betrachten gilt. Die Kammern haben Ansätze, die mit der Gewichtung von Merkmalen einhergehen oder mit der Entscheidung, welche Merkmale das "Wesen" der Erfindung ausmachen, stets vermieden. Zwar kann es vorkommen, dass im Zuge des COMVIK/Hitachi-Ansatzes (T 641/00, T 258/03) bei der Entscheidung, ob eine erfinderische Tätigkeit vorliegt, einige Merkmale unberücksichtigt bleiben; zunächst aber werden alle Merkmale zusammen betrachtet, um zu bestimmen, ob der Anspruchsgegenstand technischen Charakter hat. Erst danach kann sich die Kammer der Frage zuwenden, welche beanspruchten Merkmale zum technischen Charakter beitragen und deshalb in die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit einbezogen werden sollten (s. auch T 528/07).
Die Große Beschwerdekammer erklärte weiter, dass es in der Tat ein fest verankerter Grundsatz ist, dass Merkmale, die isoliert betrachtet zu den nach Art. 52 (2) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossenen Gegenständen gehören würden, dennoch zum technischen Charakter einer beanspruchten Erfindung beitragen können und deshalb nicht aus der Betrachtung der erfinderischen Tätigkeit ausgeklammert werden können. Dieser Grundsatz wurde bereits – wenn auch im Kontext des sogenannten Beitragsansatzes – in einer der frühesten Entscheidungen der Beschwerdekammern zu Art. 52 (2) EPÜ festgelegt, nämlich in T 208/84.
Das zweite Problem mit der angeblichen Abweichung liegt darin, dass nach der Vorlage die Entscheidungen T 163/85 und T 190/94 eine technische Wirkung auf einen physikalischen Gegenstand in der realen Welt als erforderlich ansehen sollen, was schlicht nicht stimmt. Sie haben lediglich akzeptiert, dass dies für die Überwindung des Patentierungsverbots ausreicht; für notwendig erklärt haben sie es nicht.
Auch in G 1/19 wurde diese Frage erörtert. Die Große Beschwerdekammer stellte dazu folgendes fest: Außer den in G 3/08 date: 2010-05-12 behandelten Entscheidungen führte die vorlegende Kammer noch weitere an und verwies auf Fälle, in denen offenbar eine direkt mit der physischen Realität verbundene technische Wirkung gefordert worden war, aber auch auf andere Fälle, in denen anscheinend eine potenzielle technische Wirkung berücksichtigt worden war, d. h. eine Wirkung, die sich nur in Kombination mit nicht beanspruchten Merkmalen erzeugen ließ (T 1351/04, T 625/11, s. Nrn. 36 und 37 der Gründe von T 489/14 vom 22. Februar 2019 date: 2019-02-22, ABl. 2019, A86). Ausgehend von der bestehenden Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsvorschriften sieht die Große Beschwerdekammer in G 1/19 (ABl. 2021, A77) keine Notwendigkeit, in jedem Fall eine direkte Verbindung zur (externen) physischen Realität zu fordern. Einerseits können auch Merkmale innerhalb des verwendeten Computersystems einen technischen Beitrag leisten. Andererseits gibt es zahlreiche Beispielfälle, in denen bei der Beurteilung der Technizität bzw. der erfinderischen Tätigkeit potenzielle technische Wirkungen – im Gegensatz zu direkten technischen Wirkungen auf die physische Realität – berücksichtigt wurden. Während eine direkte Verbindung zur physischen Realität, basierend auf Merkmalen, die per se technisch und/oder nichttechnisch sind, in den meisten Fällen für die Zuerkennung von Technizität ausreicht, kann sie doch keine zwingende Voraussetzung sein, und sei es bloß aus dem Grund, dass der Technizitätsbegriff ein offener bleiben muss.