3.4. Umfang der Überprüfung durch die Große Beschwerdekammer
Art. 112a (3) EPÜ stellt klar, dass der Überprüfungsantrag ein außerordentlicher Rechtsbehelf ist, dessen Einlegung die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung nicht berührt. Implizit heißt dies, dass ein erfolgreicher Überprüfungsantrag zu einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer führt, die die Beschwerdekammer-entscheidung aufhebt, d. h. deren Rechtskraft durchbricht, und zur Wiedereröffnung des Beschwerdeverfahrens (Erläuterungen in ABl. SA 4/2007, 146). Die Entscheidungen der Beschwerdekammern müssen rechtskräftige Entscheidungen sein (CA/PL 17/00 vom 27. März 2000, Punkt 5; s. auch R 1/08).
Der Überprüfungsantrag darf keinesfalls dazu instrumentalisiert werden, die Anwendung des materiellen Rechts überprüfen zu lassen. Diese Einschränkung ist gerechtfertigt, weil die Funktion des Überprüfungsantrags darin besteht, nicht hinnehmbare Fehler in einzelnen Beschwerdeverfahren zu beseitigen, und nicht darin, die Verfahrenspraxis vor dem EPA weiterzuentwickeln oder eine einheitliche Rechtsanwendung zu sichern (Erläuterungen in ABl. SA 4/2007, S. 144; R 13/10: ständige Rechtsprechung seit R 1/08). Die Große Beschwerdekammer ist gemäß Art. 112a EPÜ nicht befugt, die Entscheidung in der Sache zu prüfen und im Überprüfungsverfahren inhaltlich auf einen Fall einzugehen (R 4/09, R 13/10, R 5/15, R 7/17), und sei es auch nur mittelbar (R 19/11, R 6/13, R 3/18). Mit der Überprüfung der korrekten Anwendung des materiellen Rechts würde die Große Beschwerdekammer zu einer dritten Instanz, was ausdrücklich ausgeschlossen wurde (R 3/09; s. auch R 13/09, R 3/18). Der Zweck des Überprüfungsverfahrens besteht nicht darin zu beurteilen, ob die von der Kammer angegebenen Gründe angemessen sind oder nicht (R 13/14, R 2/18); die Große Beschwerdekammer kann die sachliche Beurteilung einer Kammer nicht durch ihre eigene ersetzen (R 9/14). Die Große Beschwerdekammer kann im Überprüfungsverfahren nicht als eine dritte Instanz bzw. als ein übergeordnetes Berufungsgericht fungieren (R 9/10, R 11/11, R 5/13; s. auch R 1/08, R 3/09, R 13/09, R 3/18).
Die fehlende Zuständigkeit der Großen Beschwerdekammer, in der Sache zu entscheiden, bringt zwangsläufig mit sich, dass sie nicht befugt ist, den normalen Gebrauch, den eine Kammer von ihrem Ermessen macht, zu überprüfen (R 10/09, s. auch R 6/17). Die Ermessensausübung unterliegt der Überprüfung nur, wenn sie willkürlich oder offensichtlich rechtswidrig ist (R 10/11) und damit eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegt (R 9/11; s. auch R 17/11).
In R 13/12 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass sie wachsam bleiben und jeden Versuch abwehren müsse, die Grenze zu verwischen zwischen dem, was eindeutig eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 113 und 112a (2) c) EPÜ sein könnte, und allem anderen, das als eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dargestellt wird, sich de facto aber auf die Entscheidung in der Sache bezieht.
In R 3/18 vertrat die Große Beschwerdekammer die Auffassung, dass die vorliegende, vom Antragsteller dargestellte "Estoppel"-Situation grundsätzlich für eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer nach Art. 112 EPÜ infrage kommen könnte. Die Große Beschwerdekammer stellte jedoch fest, dass das Fehlen einer solchen Vorlage nach Art. 112 EPÜ die Große Beschwerdekammer nicht berechtige, sich in Verfahren nach Art. 112a EPÜ mit dem Antrag des Antragstellers auf Berichtigung der Estoppel-Situation zu befassen und die zu prüfende Entscheidung aufzuheben.
Folgende Punkte können nicht Gegenstand des Überprüfungsverfahrens sein:
– die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit (R 1/08, R 12/09 vom 15. Januar 2010 date: 2010-01-15, R 6/11, R 14/13, R 6/15) einschließlich der Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik (R 5/13)
– die Auslegung eines Dokuments des Stands der Technik (R 9/08, R 8/09, R 4/11)
– die Beurteilung der Klarheit (R 15/10)
– die Beurteilung einer offenkundigen Vorbenutzung (R 19/10)
– die Beweiswürdigung (R 21/09)
– die Frage, ob eine Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuverweisen ist (R 10/09, R 9/10, R 12/09 date: 2010-01-15, R 7/13)
– die Frage, ob ein neuer Antrag (R 10/11, R 11/11, R 13/11, R 4/13) oder ein neues Dokument nach Art. 12 VOBK 2007 (R 10/09, R 17/11) oder nach Art. 13 (1) VOBK 2007 (R 1/13, R 4/14, R 6/17) zuzulassen ist
– die Frage, ob eine Berufung zuzulassen ist (R 10/14, R 10/09)
– die Frage, ob die in G 1/99 (ABl. 2001, 381) genannte Ausnahme vom Verschlechterungsverbot in einem bestimmten Fall anwendbar ist oder nicht (R 4/09; s. auch R 10/14)
– die Frage, ob eine Rechtsfrage gemäß Art. 112 EPÜ der Großen Beschwerdekammer vorzulegen ist (R 17/14, R 7/13)
– ob die Kammern befugt sind, über einen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung in München statt in Den Haag zu entscheiden (R 13/14)
– ausreichende Offenbarung (R 2/14 vom 22. April 2016 date: 2016-04-22).
- R 6/20
Catchword:
1. The Enlarged Board of Appeal affirms its previous decisions R 8/15 and R 10/18. 2. Catchword 1, second paragraph, of R 10/18 reading: "Article 113(1) EPC is infringed if the board does not address submissions that, in its view, are relevant for the decision in a manner adequate to show that the parties were heard on them, i.e. that the board substantively considered those submissions..." is complemented as follows: the requirement that "the Board substantively considered those submissions" should be given the meaning that "the Board considered the contents of those submissions", with this consideration comprising matters - pertaining to admittance of facts, evidence and requests, and/or - relating to substantive law, i.e. the merits of a case. (See Reasons, point 2). 3. Article 12(4) RPBA 2007 is in line with Articles 114(1) and 113(1) EPC. (See Reasons, point 3.2.2(a) in fine.)
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”