5.10. Spätes Vorbringen von neuen Argumenten und Angriffslinien
Ausführungen zum Begriff neue Argumente sind im Kapitel IV.C.4.6. "Spätes Vorbringen neuer Argumente" enthalten. Neuere im Rahmen der VOBK 2020 ergangene Entscheidungen zu diesem Begriff werden im Kapitel V.A.4.2.2 l) "Neuer Einwand gestützt auf bereits im Verfahren befindliche Dokumente – neue Argumente mit Tatsachenelementen" und V.A.4.2.2 n) "Rechtsausführungen" dargestellt.
Art. 12 (2) VOBK 2007 sieht vor, dass die Beschwerdebegründung ausdrücklich und spezifisch alle Tatsachen, Argumente und Beweismittel eines Beteiligten enthalten soll. Nach Art. 13 (1) VOBK 2007 steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringes eines Beteiligten nach Einreichung der Beschwerdebegründung zuzulassen.
In T 1621/09 verwies die Kammer auf die Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer G 4/92 (ABl. 1994, 149) und stellte fest, dass die Stellungnahme, insofern sie die allgemeine Zulässigkeit neuer Argumente im Beschwerdeverfahren betrifft, so zu betrachten ist, dass sie durch die mit Wirkung vom 1. Mai 2003 eingeführten Änderungen der VOBK modifiziert worden ist. Zudem erörterte die Kammer, ob neue, erstmals während der mündlichen Verhandlung vorgetragene Argumente, die sich auf im Verfahren befindliche Entgegenhaltungen stützen, eine Änderung des vollständigen Sachvortrags eines Beteiligten gemäß Art. 13 (1) VOBK 2007 darstellen können oder nicht. Die Kammer bejahte die Frage und kam zu dem Schluss, dass die Zulässigkeit solcher Argumente deswegen prima facie im Ermessen der Beschwerdekammer liegt. Auch in den Entscheidungen T 232/08, T 1069/08, T 1732/10, T 1761/10, T 433/11 und T 1847/12 kamen die Kammern zu einem ähnlichen Schluss.
In T 1914/12 stellte die Kammer fest, dass die Beschwerdekammern bei der Zulassung spät vorgebrachter Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen, keinen Ermessensspielraum haben (in Abweichung von T 1621/09). Sie verwies auf Art. 114 EPÜ, der in seiner englischen Fassung in Absatz 1 neben Tatsachen und Beweismitteln auch Argumente ("arguments") erwähnt, in Absatz 2 jedoch nicht. Folglich erstreckt sich das in Absatz 2 eingeräumte Ermessen nicht auf spät vorgebrachte Argumente. Laut der Rechtsprechung vor 2011 sind Argumente nach Art. 114 (2) EPÜ vom Ermessen ausgenommen (s. z. B. T 92/92, T 861/93, T 131/01, T 704/06, T 926/07, T 1553/07). Die Kammer fand die den Entscheidungen T 1069/08 und T 1621/09 zugrunde liegende Argumentation nicht überzeugend. Die Auslegung in diesen beiden Entscheidungen lasse außer Acht, dass ein solches Ermessen nicht durch Art. 114 (2) EPÜ gerechtfertigt werden kann, was auch in der älteren Rechtsprechung bis dahin mehrfach bekräftigt wurde. Das EPÜ und vor allem Art. 114 EPÜ machen – zumindest in der englischen Fassung – einen Unterschied zwischen der Behandlung von Tatsachen und Argumenten. Art. 114 (2) EPÜ räumt im Besonderen und ausdrücklich einen Ermessensspielraum in Bezug auf verspätet vorgebrachte Tatsachen ein, nicht aber in Bezug auf spät vorgebrachte Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen. Nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall kann die VOBK zwar zur Präzisierung und Auslegung des EPÜ herangezogen werden, nicht aber, um den Beschwerdekammern Befugnisse einzuräumen, die im Übereinkommen nicht vorgesehen sind. Siehe auch T 1359/14.
In T 1875/15 folgte die Kammer der Feststellung in T 1914/12, dass eine Kammer grundsätzlich kein Ermessen habe, verspätet vorgebrachte Argumente nicht zuzulassen. Sie stellte jedoch auch fest, dass es nach Art. 114 (2) EPÜ im Ermessen der Kammer liege, einen verspätet vorgebrachten Einwand, der neue Tatsachenbehauptungen enthält, nicht zum Verfahren zuzulassen. Der Einwand des Beschwerdegegners nach Art. 100 c) EPÜ, der erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhoben wurde, enthalte nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche (und technische) Überlegungen, nämlich zur Bedeutung des Begriffs "Poly-Olefin" in der betreffenden Passage. Das Vorbringen des Beschwerdegegners, dies sei als "Poly-Alphaolefin" zu verstehen, weswegen das entsprechende Merkmal im erteilten Anspruch 1 nicht auf der Anmeldung in der eingereichten Fassung beruhe, sei kein Argument, sondern eine Tatsachenbehauptung, nämlich dass der Fachmann den Begriff "Poly-Olefin" in dieser Passage der Anmeldung in der eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig im Sinne von "Poly-Alphaolefin" verstanden hätte. Somit habe der verspätet vorgebrachte Einwand des Beschwerdegegners eine neue Tatsachenbehauptung enthalten. Deshalb liege es nach Art. 114 (2) EPÜ im Ermessen der Kammer, den verspätet vorgebrachten Einwand des Beschwerdegegners nicht zuzulassen. Diese Feststellung stehe in Einklang mit T 1914/12, T 635/14 und T 1381/15.
In T 482/18 bezog die Kammer im Rahmen der Anwendung von Art. 13 VOBK 2020 zu T 1914/12 und T 701/97 Stellung. Sie stellte fest, dass diese offenbar davon ausgingen, dass der Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und des erteilten Patents als – sich stets und in vollem Umfang im Verfahren befindliche – Tatsachen anzusehen seien. Die Kammer stimmte der in T 1914/12 vertretenen Auffassung zu, wonach Art. 114 (2) EPÜ 1973 (Art. 114 EPÜ blieb bei der Revision unverändert) keine Grundlage darstellt, um Argumente zurückzuweisen. Sie teilte auch die Auffassung, dass die sich im Verfahren befindlichen Patentdokumente eine Anzahl, meist eine Vielzahl, einzelner Tatsachen umfassen. Sie teilte aber ausdrücklich nicht die Auffassung, wonach alle diese Tatsachen ohne ausdrückliche Geltendmachung Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind, so dass an sie jederzeit Rechtsfolgen geknüpft werden können. Nach Auffassung der Kammer widerspricht eine derartige Auffassung der Natur eines gerichtlichen Verfahrens, wie des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor den Beschwerdekammern des EPA, das auf Sachvortrag beruht, also auf der Geltendmachung von Tatsachen. Bringt der Beschwerdeführer die einzelnen Tatsachen, auf die er sich stützt nicht rechtzeitig vor, brauchen sie nach Art. 114 (2) EPÜ 1973 nicht berücksichtigt werden.