5.1.2 Änderungen, die durch einen Einspruchsgrund veranlasst sind – Regel 80 EPÜ
i) Einreichung neuer abhängiger Patentansprüche (Unteransprüche)
Wie bereits in T 829/93 und T 317/90 erläutert, sei die Hinzufügung eines abhängigen Anspruchs keine Antwort auf den Einwand, der beanspruchte Gegenstand sei nicht patentierbar, da der in dem betreffenden unabhängigen Anspruch beanspruchte Gegenstand hierbei weder beschränkt noch geändert wird. Dass abhängige Ansprüche eine wichtige Absicherung für den Fall darstellen können, dass der entsprechende unabhängige Anspruch später nicht gewährt wird, rechtfertigt es nicht, sie im Einspruchsverfahren einem verbleibenden breiteren unabhängigen Anspruch hinzuzufügen. Siehe auch T 313/98, in der T 829/93 im Zusammenhang der R. 57a EPÜ 1973 angeführt wird.
In T 340/10 rief die Kammer in Erinnerung, dass gemäß R. 80 EPÜ und gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammern Änderungen am Text eines erteilten Patents während des Einspruchsverfahrens nur dann als sachdienlich und erforderlich, und damit als zulässig, angesehen werden, wenn sie einen Einspruchsgrund nach Art. 100 EPÜ ausräumen (siehe z. B. T 317/90, T 794/94, T 674/96). Im Einklang mit früherer Rechtsprechung stellte sie jedoch klar, dass das Hinzufügen abhängiger Ansprüche keine Antwort auf den Einwand mangelnder Patentierbarkeit des beanspruchten Gegenstandes ist, da diese keinen Einfluss auf den Umfang des entsprechenden unabhängigen Anspruchs haben, dessen Gegenstand dadurch weder eingeschränkt noch geändert wird und sah in den Änderungen einen Verstoss gegen R. 80 EPÜ.
ii) Einreichung neuer unabhängiger Patentansprüche
In T 610/95 verwies die Kammer auf die Entscheidung G 1/84 (ABl. 1985, 299), aus der klar hervorgehe, dass das Einspruchsverfahren nicht als Erweiterung des Prüfungsverfahrens gedacht sei und nicht als solche missbraucht werden dürfe. Nach Auffassung der Kammer verstieße es gegen die in G 1/84 genannten Grundsätze, wenn es für zulässig erachtet würde, den Wortlaut eines erteilten Patents im Einspruchsverfahren bei Aufrechterhaltung des einzigen angefochtenen unabhängigen Anspruchs dadurch zu ändern, dass ein zusätzlicher neuer unabhängiger Anspruch aufgenommen werde, der als solcher im erteilten Patent keine Entsprechung habe. Siehe auch T 2063/15 (nachstehend zusammengefasst).
In T 223/97 bestätigte die Beschwerdekammer, dass die Hinzufügung eines oder mehrerer unabhängiger Ansprüche im Einspruchsverfahren bei Aufrechterhaltung des angefochtenen Hauptanspruchs nicht als Beschränkung dieses Hauptanspruchs angesehen werde könne, um den gegen ihn vorgebrachten Einspruchsgrund auszuräumen. Einen erteilten unabhängigen Anspruch durch mehrere – beispielsweise zwei – unabhängige Ansprüche zu ersetzen, die jeweils auf eine unter den erteilten unabhängigen Anspruch fallende besondere Ausführungsart gerichtet seien, sei allerdings zulässig, wenn dies durch Einspruchsgründe veranlasst sei. Siehe auch T 428/12.
Mit Hinweis auf diese Entscheidung führte die Kammer in T 181/02 aus, nur in Ausnahmefällen könne der Ersatz eines erteilten einzigen unabhängigen Anspruchs durch zwei oder mehr unabhängige Ansprüche durch einen Einspruchsgrund veranlasst werden, zum Beispiel in Fällen, in denen ein erteilter unabhängiger Anspruch zwei bestimmte Ausführungsformen abdeckt. Eine solche Situation kann sich auch ergeben, wenn zwei erteilte abhängige Ansprüche (z. B. Ansprüche 2 und 3) parallel mit einem einzigen unabhängigen Anspruch (Anspruch 1) verbunden sind. Dann kann die Einreichung von zwei unabhängigen Ansprüchen (z. B. mit den Merkmalen der Ansprüche 1 und 2 sowie 1 und 3) möglich sein, wobei dadurch zusätzlich die Zahl der Ansprüche reduziert wird. In der Regel reiche es allerdings aus, dass der Patentinhaber bei einem einzigen unabhängigen Anspruch bleibt und den erteilten Anspruch nur einmal ändert, indem er in den einzigen unabhängigen Anspruch in der erteilten Fassung ein oder mehrere Merkmale aufnimmt. Siehe auch T 1689/12; s. außerdem T 1810/14, wo die Kammer eine weitere Situation definiert hat, in der der Ersatz eines erteilten einzigen unabhängigen Anspruchs durch zwei unabhängige Ansprüche zulässig sein kann.
Unter Hinweis auf die vorstehende Rechtsprechung fügte die Kammer in T 263/05 (ABl. 2008, 329) hinzu, bei der Prüfung der Änderungen braucht sie nicht darüber zu befinden, ob der Austausch eines einzigen erteilten unabhängigen Anspruchs gegen zwei unabhängige Ansprüche nur in "Ausnahmefällen" durch den Einspruchsgrund veranlasst wäre; vielmehr muss je nach Einzelfall die Frage beantwortet werden, ob die vorgeschlagenen Änderungen eine zweckmäßige und notwendige Reaktion zur Vermeidung des Widerrufs des Patents sind, sodass sie als durch die Einspruchsgründe bedingt anzusehen sind. Siehe auch T 428/12 und T 2063/15 (nachstehend zusammengefasst).
In T 937/00 fand die Kammer grundsätzlich nichts daran zu beanstanden, dass ein Patentinhaber seine Ansprüche auf einen Einspruch hin so ändert, dass sie mehrere unabhängige Ansprüche für verschiedene Gegenstände umfassen, die ursprünglich in einem einzigen generischen Anspruch einer bestimmten Kategorie enthalten waren, wenn dieser nicht aufrechterhalten werden kann. Sie stellte jedoch fest, dass die Einreichung mehrerer, auf verschiedene Erfindungen gerichteter unabhängiger Ansprüche das Einspruchsverfahren unnötig erschweren und verzögern kann, vor allem wenn noch eine Reihe weiterer Änderungen eingereicht wird. Eine effiziente und möglichst vollständige Prüfung des Einspruchs kann zum Beispiel praktisch unmöglich werden, wenn spätere Änderungen nach und nach eingereicht werden, anstatt dass auf alle von der Gegenpartei erhobenen Einwände sofort eingegangen wird. Siehe auch T 2290/12, in der die Kammer es als legitim ansah, Teilbereiche eines erteilten aber von der Einspruchsabteilung für nicht erfinderisch befundenen Anspruchs mittels mehrerer unabhängiger Ansprüche abzudecken, solange kein Verfahrensmissbrauch vorliegt oder eine unangemessen große Zahl von unabhängigen Ansprüchen eingereicht wird.
In T 1/05 hielt die Kammer die Einführung von Product-by-Process-Ansprüchen nicht für eine durch einen Einspruchsgrund veranlasste Änderung. Die Einreichung solcher Ansprüche machte deutlich, dass diese Änderungen nicht auf den Einspruchsgrund Bezug nehmen, sondern die Folgen einer anderen, auf den Einspruchsgrund gerichteten Änderung, nämlich der Streichung der Erzeugnisansprüche, kompensieren sollten.
In T 2063/15 umfasste der strittige Antrag zwei unabhängige Ansprüche. Während allerdings Anspruch 2 auf eine Kombination der Ansprüche 1 und 9 in der erteilten Fassung gestützt war, basierte Anspruch 1 auf einer Kombination der Ansprüche 1 und 2 in der erteilten Fassung mit zusätzlichen, der Beschreibung entnommenen Merkmalen. Da der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung für nicht neu befunden worden war, war es zwar möglich – so die Kammer –, einen oder mehrere unabhängige Ansprüche auf der Grundlage einer Kombination aus dem Anspruch 1 in der erteilten Fassung und Merkmalen von erteilten, von Anspruch 1 abhängigen Ansprüchen als durch den Einspruchsgrund nach Art. 100 a) EPÜ veranlasst zu sehen. Unter Verweis auf G 1/84 (ABl. 1985, 299), T 610/95 und T 223/97 befand die Kammer jedoch, dass die Aufnahme des zusätzlichen unabhängigen Anspruchs 1, nicht mehr nur durch einen Einspruchsgrund veranlasst war, weil auf diesen Grund bereits mit der Einreichung des unabhängigen Anspruchs 2 reagiert worden war; der zusätzliche unabhängige Anspruch 1 führte ferner einen beanspruchten Gegenstand ein, der keine Entsprechung in den Ansprüchen des erteilten Patents hatte.
Auch in T 1764/17 betonte die Kammer, dass der Ersatz eines einzigen erteilten unabhängigen Anspruchs durch zwei unabhängige Ansprüche nur in Ausnahmefällen als durch einen Einspruchsgrund veranlasst angesehen werden kann. Eine Ausnahme kann vorliegen, wenn zwei erteilte abhängige Ansprüche parallel mit einem einzigen unabhängigen Anspruch verbunden sind. Dann kann die Einreichung von zwei unabhängigen Ansprüchen mit jeweils einer der zwei parallelen Anspruchskombinationen möglich sein, und separate Fragmente des Schutzumfangs des Patents bleiben so erhalten. Diese Ausnahme gilt aber nicht für die Hinzufügung eines unabhängigen Anspruchs, der auf einen nicht im erteilten Anspruchssatz enthaltenen Aspekt der Erfindung gerichtet ist. Im vorliegenden Fall war mindestens einer der zwei unabhängigen Ansprüche auf einen Gegenstand gerichtet, der aus der Beschreibung entnommene neue Merkmale umfasste, was zudem für die Frage der Patentierbarkeit von Belang sein konnte. Bei diesen unabhängigen Ansprüchen handelte es sich somit nicht um direkte Kombinationen erteilter Ansprüche, und die genannte Ausnahme war nicht gegeben.
- T 431/22
Zusammenfassung
In T 431/22 war die Beschwerdeführerin (Einsprechende) der Ansicht, der Hauptantrag erfülle nicht die Erfordernisse der R. 80 EPÜ, da der erteilte unabhängige Anspruch 1 im Einspruchsverfahren durch mehrere unabhängige Ansprüche ersetzt worden sei.
Nach R. 80 EPÜ können die Beschreibung, die Ansprüche und die Zeichnungen geändert werden, soweit die Änderungen durch einen Einspruchsgrund nach Art. 100 EPÜ veranlasst sind.
Die Kammer folgte im Wesentlichen den Erwägungen der Entscheidung T 263/05, insbesondere dem Ansatz, dass die Vereinbarkeit mit R. 80 EPÜ einer Beurteilung im konkreten Einzelfall bedarf und nicht pauschal zu beantworten ist.
Die Kammer vermochte aus R. 80 EPÜ keine Vorgaben dafür ableiten, auf welche Art und Weise bzw. mittels welcher Änderungen ein Patentinhaber einen Einspruchsgrund zu überwinden habe. Als "veranlasst" im Sinne von R. 80 EPÜ könnten Änderungen angesehen werden, die notwendig und zweckmäßig seien, einen Einspruchsgrund auszuräumen. Betreffe der Einspruchsgrund einen unabhängigen Anspruch, so stehe R. 80 EPÜ Änderungen nicht entgegen, wodurch dieser Anspruch durch zwei oder mehrere unabhängige Ansprüche ersetzt werde, sofern deren Gegenstand im Vergleich zum erteilten Anspruch eingeschränkt oder geändert sei. Es erschien der Kammer legitim, dass ein Patentinhaber zum Überwinden eines Einspruchsgrunds versucht, Teilbereiche des erteilten unabhängigen Anspruchs gegebenenfalls mittels zweier oder mehrerer unabhängiger Ansprüche abzudecken. Nach Auffassung der Kammer dürfte eine Grenze allerdings dann zu ziehen sein, wenn ein solches Vorgehen des Ersetzens eines unabhängigen Anspruchs als Versuch der Fortführung des Erteilungsverfahrens oder sonst verfahrensmissbräuchlich erscheine.
Vorliegend war der gegen das Streitpatent eingelegte Einspruch mit mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit insbesondere der jeweiligen Gegenstände der unabhängigen Ansprüche 1 und 14 begründet worden. Die Beschwerdegegnerin hatte auf diese Einspruchsgründe, sowie auf weitere zwischenzeitlich erhobene Einwände, mit dem Anspruchssatz des Hauptantrags reagiert, in dem der erteilte unabhängige Anspruch 1 durch die unabhängigen Ansprüche 1, 2, 3 und 4 ersetzt und der erteilte unabhängige Anspruch 14 gestrichen wurde. Die Kammer hielt fest, dass jeder dieser vier unabhängigen Ansprüche im Vergleich zum erteilten Anspruch 1 weitere beschränkende Merkmale enthielt. Diese vier Ansprüche stellten im Wesentlichen Kombinationen aus dem erteilten unabhängigen Anspruch 1 mit von diesem abhängigen Ansprüchen dar, wobei der aus der Beschreibung stammende Zusatz in Anspruch 3 das aus dem erteilten Anspruch 8 stammende Merkmal näher definierte. Einen Verfahrensmissbrauch hatte die Beschwerdeführerin nicht geltend gemacht und vermochte die Kammer nicht zu erkennen.
Damit waren die Änderungen gemäß R. 80 EPÜ aus Sicht der Kammer nicht zu beanstanden.