6. Chemische Erfindungen und Auswahlerfindungen
Der Stand der Technik enthält oft Druckschriften, die mit allgemeinen Begriffen beschriebene technische Lehren enthalten, unter die sich eine Anzahl speziellerer technischer Lehren subsumieren lassen. Bei der Beurteilung der Neuheit eines Gegenstands, der sich unter einen solchen zum Stand der Technik gehörenden allgemeinen Begriff subsumieren lässt, stellt sich die Frage, ob das Beanspruchte durch den allgemeinen Begriff der Öffentlichkeit ganz oder teilweise zugänglich gemacht worden ist. Mit anderen Worten, entscheidend ist, ob der in der Entgegenhaltung verwendete allgemeine Begriff schon den Gegenstand offenbart, der durch den im Anspruch enthaltenen speziellen Begriff definiert wird. In diesen Fällen ist der Offenbarungsgehalt der Vorveröffentlichung mit besonderer Sorgfalt zu ermitteln. Besonders häufig findet man solche allgemeinen Begriffe in der chemischen Fachliteratur, weshalb die einschlägige Rechtsprechung meist das Gebiet der Chemie betrifft (s. z. B. T 2350/16 betreffend eine Anmeldung auf dem Gebiet der Mechanik, in der die Kammer feststellte, dass die Rechtsprechung betreffend die Auswahl aus Listen nicht zur Anwendung kommen konnte, da es sich nicht um (lange) Listen handelte, wie sie in der Chemie gebräuchlich sind, sondern jeweils nur um eine Auswahl aus höchstens zwei oder drei Elementen; s. auch T 712/16). Dabei lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden:
a) die Beurteilung der Neuheit chemischer Stoffe und Stoffgruppen gegenüber allgemeinen Formeln (Markush-Formeln), zu deren Umfang sie gehören (s. unter Kapitel I.C.6.2. "Neuheit chemischer Verbindungen und Stoffgruppen"), und
b) die Beurteilung der Neuheit von Erzeugnissen oder Verfahren, welche durch Parameterbereiche definiert sind, gegenüber bekannten Erzeugnissen oder Verfahren, die durch breitere oder überlappende Parameterbereiche gekennzeichnet sind (s. unter Kapitel I.C.6.3. "Auswahl aus Parameterbereichen").
Diese Fallgruppen unterscheiden sich hauptsächlich in technischer Hinsicht, es gelten jedoch dieselben patentrechtlichen Prinzipien. Daher konnten die Beschwerdekammern bei der Erörterung dieser Fragen immer wieder dieselben Ansätze aufgreifen.