3.2.3 Internet-Offenbarungen
Die beiden Entscheidungen T 1553/06 und T 2/09 beschäftigten sich mit der Frage der öffentlichen Zugänglichkeit eines im World Wide Web gespeicherten Dokuments. Beide Fälle betrafen Testfälle. Die beiden Entscheidungen ergingen vor T 286/10 (in der das geltende Recht zum Beweismaßstab für Internet-Veröffentlichungen festgelegt wurde).
In T 1553/06 erarbeitete die Kammer einen Test zur Beurteilung der öffentlichen Zugänglichkeit eines im World Wide Web gespeicherten Dokuments, das mit einer öffentlichen Suchmaschine anhand von Stichworten gefunden werden kann. Für die Ausarbeitung des Tests ging die Kammer von der Feststellung aus, dass die rein theoretische Möglichkeit des Zugangs zu einem Mittel der Offenbarung dieses der Öffentlichkeit nicht zugänglich im Sinne des Art. 54 (2) EPÜ 1973 macht. Es bedarf vielmehr einer praktischen Möglichkeit des Zugangs, d. h. eines "unmittelbaren und eindeutigen Zugangs" zum Mittel der Offenbarung für mindestens ein Mitglied der Öffentlichkeit, wie in G 1/92 (ABl. 1993, 277) und T 952/92 (ABl. 1995, 755) dargelegt:
Wenn ein im World Wide Web gespeichertes und über eine bestimmte URL-Adresse zugängliches Dokument vor dem Anmelde- oder Prioritätstag eines Patents bzw. einer Patentanmeldung (1) mithilfe einer öffentlichen Internetsuchmaschine durch Eingabe eines oder mehrerer Schlagwörter, die sich alle auf den wesentlichen Inhalt dieses Dokuments beziehen, gefunden werden konnte und (2) unter dieser URL solange abrufbar blieb, dass ein Mitglied der Öffentlichkeit, d. h. jemand, der nicht verpflichtet war, den Inhalt des Dokuments geheim zu halten, einen unmittelbaren und eindeutigen Zugang zu dem Dokument erhalten konnte, dann wurde das Dokument im Sinne von Art. 54 (2) EPÜ 1973 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
In T 2/09 bezweifelte die Kammer, ob es ähnlich wie bei Webseiten möglich sei, auf E-Mails, die über das Internet übermittelt würden, zuzugreifen und nach ihnen zu suchen, und zwar unabhängig davon, ob der Zugriff und die Offenbarung des Inhalts der E-Mail rechtmäßig seien. Nach Auffassung der Kammer sprach angesichts der Unterschiede zwischen Webseiten und derartigen E-Mails prima facie vieles gegen die öffentliche Zugänglichkeit von E-Mails. Die Kammer entschied, dass der Inhalt einer E-Mail nicht schon deshalb der Öffentlichkeit im Sinne von Art. 54 (2) EPÜ 1973 zugänglich gemacht worden ist, weil die E-Mail vor dem Anmeldetag über das Internet übermittelt wurde (vgl. auch T 523/14 zu einem per E-Mail verschickten Werbe-Newsletter – s. in diesem Kapitel I.C.3.2.1 c)).
In T 2284/13 (Wayback-Maschine als Stand der Technik) akzeptierte die Kammer eine Kombination von D5, einer unvollständigen Archiv-Version einer Webseite (im Internet-Archiv "Wayback Maschine" web.archive.org; öffentlich zugänglich 2004 mit nur kleinen Bildern), und D5', einem neueren Download (2009) der Webseite (mit Vollbildansicht), als Nachweis einer Vorveröffentlichung. Deshalb musste bei der Beurteilung der früheren Offenbarung von D5 die erweiterte Abbildung des "MRTT-Kraftstoffsystems" in D5' als Teil dieser Offenbarung mit berücksichtigt werden.