4. Erste Anmeldung für die Erfindung
Bei der Prüfung der Frage, ob die in der europäischen Nachanmeldung beanspruchte Erfindung schon in der älteren Voranmeldung offenbart wurde, sind dieselben Grundsätze anzuwenden wie auch sonst bei der Prüfung auf Identität der Erfindung in der prioritätsbegründenden und prioritätsbeanspruchenden Anmeldung: Die Frage ist, ob der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs der Nachanmeldung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der älteren Voranmeldung entnehmen kann oder erst der jüngeren (s. G 2/98, ABl. 2001, 413).
In T 323/90 kam die Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass die angebliche Erstanmeldung eine andere Erfindung offenbare als die europäische Patentanmeldung und die Anmeldung, deren Priorität für die europäische Anmeldung beansprucht wurde. Denn die jeweils beanspruchten Verfahren zur Verbesserung der Füllfähigkeit von Tabakblättern unterschieden sich hinsichtlich des Feuchtigkeitsgehalts des zu verarbeitenden Tabaks und hinsichtlich des ersten Verfahrensschritts.
In T 400/90 wurde für die europäische Anmeldung eines elektromagnetischen Durchflussmessers die Priorität einer US-amerikanischen Anmeldung beansprucht. Nach Auffassung der Einsprechenden offenbare eine ältere US-Anmeldung, die derselbe Anmelder außerhalb des Prioritätszeitraums eingereicht hatte, alle in der europäischen Anmeldung enthaltenen Merkmale mit Ausnahme der Verwendung sattelförmiger Spulen; Letztere seien aber bekannt und würden häufig benutzt. Die richtige Frage, so die Kammer, sei, ob die Verwendung sattelförmiger Spulen in der älteren US-Anmeldung offenbart sei, und nicht, ob es naheliegend sei, für die in der älteren Anmeldung offenbarten Magnete solche Spulen zu verwenden. Die Kammer kam zu dem Schluss, die in den US-Anmeldungen beanspruchten Erfindungen seien verschieden und die Priorität der jüngeren zu Recht beansprucht, weil nach der Lehre der älteren Anmeldung jede Spulenform eingesetzt werden könne, nach der Lehre des Prioritätsdokuments aber notwendigerweise sattelförmige Spulen zu verwenden seien.
In T 184/84 beanspruchten die japanische Anmeldung, deren Priorität in der europäischen Patentanmeldung in Anspruch genommen wurde, sowie eine frühere japanische Anmeldung ein Verfahren zur Herstellung von Ferrit-Einkristallen. In den beiden japanischen Anmeldungen wurden die Ausgangsstoffe jeweils unterschiedlich definiert. Das in der jüngeren Anmeldung und in der europäischen Anmeldung offenbarte Verfahren war deutlich vorteilhafter als das, das Gegenstand der älteren Anmeldung war. Die Kammer sah in den signifikanten Eigenschaftsunterschieden einen Hinweis auf das Vorhandensein unterschiedlicher Materialien und betrachtete folglich die ältere japanische Anmeldung nicht als die erste Anmeldung der in der europäischen Patentanmeldung beanspruchten Erfindung. Sie bezog sich hierbei auf T 205/83 (ABl. 1985, 363), nach der die Neuheit von Erzeugnissen, die mithilfe eines abgewandelten Verfahrens hergestellt werden, daraus folgen kann, dass nach einem chemischen Erfahrungssatz die Eigenschaften eines Erzeugnisses von dessen Struktur geprägt werden, sodass Unterschiede in den Eigenschaften der Erzeugnisse den Rückschluss auf eine Strukturabänderung gestatten.
Der Gegenstand des Patents in der Sache T 107/96 enthielt das Merkmal "Kontaktwinkel von mehr als 120 Grad", das auch in P2, der späteren der beiden amerikanischen Voranmeldungen offenbart war. In P2 wird der weiten Öffnung des "Kontaktwinkels" ein besonders vorteilhafter Effekt zugeschrieben. In der älteren amerikanischen Voranmeldung P1 wurden der "Kontaktwinkel" und seine Vorteile mit keinem Wort erwähnt. Die Abbildungen in P1 enthielten allerdings Diagramme und schematische Zeichnungen. Die Kammer stellte fest, dass deswegen und gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern diese nicht zur Ermittlung der Mindestöffnung des "Kontaktwinkels" herangezogen werden dürfen, da Maße, die man erst durch das Nachmessen einer Diagrammdarstellung in einem Dokument erhält, nicht Bestandteil der Offenbarung sind. Mithin war das genannte Merkmal eines "Kontaktwinkels von mehr als 120 Grad" nicht in P1, sondern erst in P2 offenbart.
In T 449/04 nahm die Kammer Bezug auf die von der Großen Beschwerdekammer in G 2/98 (ABl. 2001, 413) behandelte enge Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" in Art. 87 (1) EPÜ 1973 und kam zu dem Schluss, dass die in der früheren Anmeldung D1 des Anmelders offenbarte Erfindung nicht "dieselbe Erfindung" war, wie die in der Prioritätsanmeldung PR offenbarte. Bezüglich eines Vergleichsbeispiels in D1 mit einer Zusammensetzung, die in die Bereiche fiel, die für die Komponenten des in der Streitanmeldung wie auch in der Anmeldung PR beanspruchten Stahls angegeben wurden, wies die Kammer aber darauf hin, dass "dieselbe Erfindung" im Sinne von Art. 87 (1) EPÜ 1973 nicht die Vergleichsbeispiele umfasst, die in D1 klar und eindeutig vom Umfang der Erfindung ausgeschlossen sind. In Anbetracht der engen Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" ist dieser Begriff auf die Merkmale der Erfindung beschränkt.
In T 1222/11 war Anspruch 1 durch die Aufnahme von sechs Disclaimern geändert worden, die ihn gegen die Offenbarung von D4b, einer früheren internationalen (Euro-PCT) Anmeldung desselben Anmelders, abgrenzen sollten, die im Prioritätsintervall veröffentlicht worden war. Die Kammer stellte fest, dass die durch die positive Formulierung (d. h. ohne Disclaimer) definierte Merkmalkombination in Anspruch 1 nicht von der Offenbarung in D4b zu unterscheiden war und die beanspruchte Priorität nicht zuerkannt werden konnte, soweit sie den bereits in D4b offenbarten Gegenstand betraf (Art. 87 (1), (4) EPÜ). Die Zusammensetzungen von D4b waren somit Stand der Technik nach Art. 54 (2) EPÜ. Die neuheitsschädliche Offenbarung von D4b wertete die Kammer nicht als zufällige Vorwegnahme (vgl. G 1/03, ABl. 2004, 413) und gelangte daher zu dem Schluss, dass die auf dieser Offenbarung basierenden Disclaimer nach Art. 123 (2) EPÜ nicht zulässig waren. Ein weiterer Hinweis auf diese Entscheidung findet sich in diesem Kapitel II.D.5.3.1.
In T 282/12 stellte die Kammer fest, dass die Grundsätze der Entscheidung G 1/15 (ABl. 2017, A82 – Konzept der Teilpriorität) aus Gründen der Einheitlichkeit auch bei der Feststellung Anwendung finden müssen, ob eine Anmeldung, deren Priorität beansprucht wird, die erste Anmeldung im Sinne von Art. 87 (1) EPÜ ist. So sei es durchaus möglich, dass die Prioritätsanmeldung und eine vom selben Anmelder eingereichte frühere Anmeldung genauso wie eine Prioritätsanmeldung und ein Patent, das die Priorität dieser Anmeldung beansprucht, teilweise dieselbe Erfindung betreffen. In diesem Fall wäre die Prioritätsanmeldung nur in Bezug auf den Teil der Erfindung, der nicht derselbe ist wie in der früheren Anmeldung, die erste Anmeldung. Hier stellte die Kammer fest, dass die vom Anmelder eingereichte frühere Anmeldung einen Bereich offenbarte, der im Bereich der Prioritätsanmeldung enthalten war. Deshalb war die Prioritätsanmeldung für diesen Unterbereich nicht die erste Anmeldung. S. auch die Zusammenfassung dieser Entscheidung in Kapitel II.D.5.3.3.
In T 1662/14 war das Dokument D2 eine Euro-PCT-Anmeldung, für die die Priorität von D3 beansprucht wurde, einer Anmeldung des Rechtsvorgängers des Anmelders von D2. D3 wies denselben technischen Inhalt wie D2 auf und war vor dem Anmeldetag des Streitpatents (für das keine Priorität beansprucht wurde) eingereicht worden. D11 war ebenfalls eine Anmeldung des Rechtsvorgängers des Anmelders von D2 und hatte denselben technischen Inhalt wie die ursprüngliche Anmeldung, auf der das Streitpatent basierte. D3 war eine Teilfortsetzung von D11, sodass für D11 Rechte im Sinne von Art. 87 (4) EPÜ bestehen geblieben waren. Folglich war nicht D3, sondern D11 die erste Anmeldung in Bezug auf die darin offenbarte Erfindung, und D2 konnte nicht wirksam die Priorität von D3 für diese Erfindung beanspruchen. D2 enthielt jedoch spezifischere Elemente, denn es offenbarte ein System mit zusätzlichen, nicht in D11 offenbarten technischen Merkmalen. Somit war D11 nicht die erste Anmeldung für das spezifischere System und der Prioritätsanspruch von D2 gültig in Bezug auf dieses System, für das D3 die erste Anmeldung war. Dieses spezifische System war Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ und nahm den Gegenstand des Anspruchs 1 vorweg.