BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 29. November 2016 - G 1/15
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | W. van der Eijk |
Mitglieder: | P. Carlson |
Patentinhaber/Beschwerdeführer:
Infineum USA L. P.
Einsprechender/Beschwerdegegner:
Clariant Produkte (Deutschland) GmbH
Relevante Rechtsnormen:
Artikel 54, 76, 87, 88, 89, 112 (1) a), 123 (2) EPÜ
Artikel 4 A (1), 4 B, 4 C, 4 F, 4 H Pariser Verbandsübereinkunft
Schlagwort:
Zulässigkeit der Vorlagen der Beschwerdekammern (bejaht) – Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (bejaht) – Prioritätsrecht – Voraussetzungen und Wirkungen – Teil- und Mehrfachprioritäten – Rechtsgrundlage und Beurteilung der Teilpriorität
Leitsatz:
Das Recht auf Teilpriorität für einen Anspruch, der aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer "ODER"-Anspruch), kann nach dem EPÜ nicht verweigert werden, sofern diese alternativen Gegenstände im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit –, eindeutig und ausführbar offenbart sind. Andere materiellrechtliche Bedingungen oder Einschränkungen finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung.
Sachverhalt und Anträge
I. Mit der Zwischenentscheidung T 557/13 vom 17. Juli 2015 hat die Technische Beschwerdekammer 3.3.06 der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ die folgenden Rechtsfragen vorgelegt:
"1. Wenn ein Anspruch einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer "ODER"-Anspruch), kann dann nach dem EPÜ für diesen Anspruch das Recht auf Teilpriorität bezüglich eines alternativen Gegenstands verweigert werden, der im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit – und eindeutig (ausführbar) offenbart ist?
2. Lautet die Antwort ja, unter bestimmten Bedingungen, ist dann die in Nummer 6.7 von G 2/98 aufgestellte Bedingung "sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird" als Maßstab der rechtlichen Beurteilung der Frage, ob für einen generischen "ODER"-Anspruch ein Recht auf Teilpriorität anzuerkennen ist, heranzuziehen?
3. Falls Frage 2 bejaht wird, wie sind dann die Kriterien "beschränkte Zahl" und "eindeutig definierte alternative Gegenstände" auszulegen und anzuwenden?
4. Falls Frage 2 verneint wird, wie ist dann zu beurteilen, ob für einen generischen "ODER"-Anspruch ein Recht auf Teilpriorität anzuerkennen ist?
5. Kann im Fall einer zustimmenden Antwort auf Frage 1 ein in einer Stamm- oder Teilanmeldung zu einer europäischen Patentanmeldung offenbarter Gegenstand als Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ einem Gegenstand entgegengehalten werden, der im Prioritätsdokument offenbart ist und als Alternative von einem generischen "ODER"-Anspruch dieser europäischen Patentanmeldung oder des darauf erteilten Patents umfasst wird?"
II. In dem der Vorlageentscheidung zugrunde liegenden Verfahren hatte die Einspruchsabteilung das europäische Patent Nr. 0 921 183 widerrufen, das auf eine Teilanmeldung zu der europäischen Patentanmeldung Nr. 95923299.2 (nachfolgend: "Stammanmeldung") erteilt worden war. Letztere war am 8. Juni 1995 eingereicht und am 14. Dezember 1995 veröffentlicht worden. Das Patent und die Stammanmeldung beanspruchten die Priorität der am 9. Juni 1994 eingereichten nationalen Anmeldung GB 9411614.2 (nachfolgend: D16).
Die Ansprüche 1 und 7 des Patents lauteten wie folgt:
"1. Verwendung eines Kaltfließverbesserers, bei der der Kaltfließverbesserer eine öllösliche polare Stickstoffverbindung ist, die zwei oder mehr Substituenten mit der Formel -NR13R14 trägt, wobei R13 und R14 jeweils für eine Kohlenwasserstoffgruppe stehen, die 8 bis 40 Kohlenstoffatome enthält, mit der Maßgabe, dass R13 und R14 gleich oder unterschiedlich sein können, wobei einer oder mehrere der Substituenten in Form eines davon abgeleiteten Kations vorliegen kann bzw. können, zur Verbesserung der Schmierfähigkeit einer Brennstoffölzusammensetzung mit einem Schwefelgehalt von höchstens 0,05 Gew.-%, wobei bezogen auf das Gewicht des Brennstoffs 0,001 bis 1 Gew.-% des Kaltfließverbesserers vorhanden ist."
"7. Verwendung nach einem der Ansprüche 1 bis 4, bei der die polare Stickstoffverbindung das N,N-Dialkylammoniumsalz des 2-N',N'-Dialkylamidobenzoatprodukts der Umsetzung von einem Mol Phthalsäureanhydrid und zwei Mol Di(-hydriertem Talg-)amin ist."
Gegen das Patent war Einspruch unter Berufung auf Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) und Artikel 100 c) EPÜ (Nichterfüllung der Erfordernisse der Art. 123 (2) und 76 (1) EPÜ) eingelegt worden.
Die Einspruchsabteilung hatte ihre Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
- Die Ansprüche in der erteilten Fassung verstießen nicht gegen Artikel 123 (2) oder 76 (1) EPÜ.
- Der Gegenstand des Anspruchs 1, bei dem es sich um eine Verallgemeinerung einer spezifischeren Offenbarung bezüglich der Art der im Prioritätsdokument als Kaltfließverbesserer verwendeten Verbindung handle, stelle nicht dieselbe Erfindung dar. Somit sei die beanspruchte Priorität nicht für den gesamten Schutzumfang des Anspruchs 1 wirksam. Mit Verweis auf die Stellungnahme G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413, Nrn. 4, 6.6 und 6.7 der Begründung der Stellungnahme) befand die Einspruchsabteilung, dass zudem durch die "im erteilten Anspruch 1 enthaltene Zwischenverallgemeinerung der Offenbarung des Prioritätsdokuments D16 keine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht" werde und somit "dem Gegenstand von Anspruch 1 nur der Anmeldetag zuerkannt werden" könne.
- Obwohl das Patent die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ erfülle, genieße es nicht den Prioritätstag der Stammanmeldung, die somit Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ sei.
- Folglich sei der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung nach Artikel 54 (3) EPÜ nicht neu gegenüber der Verwendung des Kaltfließverbesserers aus Beispiel 1, die in identischer Weise in der Stammanmeldung und im Prioritätsdokument offenbart worden sei. Der in der Stammanmeldung beschriebenen Ausführungsform könne "der beanspruchte Prioritätstag vom 9. Juni 1994 zuerkannt werden", wohingegen "dem erteilten Anspruch 1 nur der 8. Juni 1995 als Anmeldetag zuerkannt werden" könne.
III. Mit Verfügung vom 14. Oktober 2015 forderte die Große Beschwerdekammer den Präsidenten des Europäischen Patentamts auf, zu den ihr von der Technischen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen Stellung zu nehmen, und veröffentlichte einen Hinweis im Amtsblatt des Europäischen Patentamts, um so auch Dritten die Möglichkeit zu eröffnen, sich zu den Vorlagefragen zu äußern.
IV. Der Präsident des Europäischen Patentamts gab seine Stellungnahme mit Schreiben vom 25. Februar 2016 ab. Außerdem gingen zahlreiche Amicus-curiae-Schriftsätze ein.
V. Die mündliche Verhandlung fand am 7. Juni 2016 statt. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende, dass die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer bis Ende November 2016 in schriftlicher Form ergehen werde.
VI. Vorbringen der Beschwerdeführerin
- Vorlagefrage 1
Der Begriff des generischen "ODER"-Anspruchs könne mindestens auf zweierlei Weise ausgelegt werden: zum einen könne ein Anspruch gemeint sein, der über die am Weitesten gefasste Offenbarung des Prioritätsdokuments hinaus erweitert sei, zum anderen ein Anspruch, der enger gefasst sei als die Prioritätsoffenbarung, aber einen generischen Ausdruck enthalte. Die Beschwerdeführerin ersuchte die Große Beschwerdekammer, in ihrer Entscheidung zu klären, welcher Auslegung sie folge.
Was den rechtlichen Rahmen der vorliegenden Thematik anbelange, so sei das EPÜ ein Sonderabkommen im Sinne der Pariser Verbandsübereinkunft (J 15/80, ABl. EPA 1981, 213). Daher sollten Auslegungen des EPÜ, die mit der Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) nicht vereinbar seien, nicht als Absicht des Gesetzgebers angesehen werden.
Die Vorlagefrage sei auf bestimmte Einzelaspekte des EPÜ gerichtet. Das EPÜ müsse aber als kohärentes Ganzes ausgelegt werden: Auslegungen eines Teils, die im Widerspruch zu anderen Teilen stünden oder diese beeinträchtigten, könnten nicht in der Absicht des Gesetzgebers liegen.
Nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge seien die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ die wichtigste Informationsquelle zur Klärung der Bedeutung des EPÜ. Das Primärrecht stehe über dem Sekundärrecht (Rechtsprechung). Im Konfliktfall solle die gesetzgeberische Absicht Vorrang haben, wie sie sich aus den vorbereitenden Arbeiten ergebe.
Das Patentsystem müsse in Anbetracht seines politischen und wirtschaftlichen Hintergrunds einfach und erschwinglich sein und das Prioritätsrecht mit hoher Rechtssicherheit stützen. Die Rechtstexte müssten die Gegebenheiten im Bereich der Forschung widerspiegeln und dürften keine künstlichen Hindernisse für das Recht auf eine Priorität oder für die Verwaltung und Übertragung von Patentrechten schaffen.
Die Frage der toxischen Priorität und der Selbstkollision erscheine in diesem Kontext deplatziert; durch ihre Komplexität verursache sie höhere Kosten und mehr Rechtsunsicherheit und schaffe ein weiteres Hindernis für den Patentschutz. Zudem sei sie in den anderen Prioritätssystemen nicht bekannt, wo die Pariser Verbandsübereinkunft angewandt werde, ohne dass diese Problematik auftrete.
Eine enge, wörtliche Auslegung der Bedingung aus G 2/98 (a. a. O., Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) – "sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird" – komme im mehrseitigen Verfahren nach dem EPÜ praktisch einem materiellen Klarheitseinwand gegen erteilte Ansprüche gleich: mangelnde Klarheit alleine würde schon dafür ausreichen, dass die Bedingung aus Nr. 6.7 nicht erfüllt wäre, womit der Anspruch nicht neu wäre und Selbstkollision vorläge.
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin sollte die Frage 1 verneint werden, weil die Divergenz in der Rechtsprechung durch eine enge Auslegung der in Nummer 6.7 von G 2/98 aufgestellten Bedingung als definitiver Aussage zur Rechtslage im Bereich der Teilpriorität bedingt sei. Die Gesetzgebung habe aber Vorrang vor der Rechtsprechung, und weder das EPÜ noch die Pariser Verbandsübereinkunft sehe einen restriktiven Ansatz vor, wonach Teilprioritäten (oder Mehrfachprioritäten) verwehrt werden sollten, weil ein Anspruch nicht so abgefasst sei, dass er sich auf eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beziehe. Das von der FICPI vorgelegte Memorandum C (nachfolgend: "das Memorandum", vgl. vorbereitende Arbeiten zum EPÜ 1973, M/48/I, Abschnitt C) zeige ganz deutlich, welcher Ansatz zu Teilprioritäten (oder Mehrfachprioritäten) beabsichtigt gewesen sei: generische "ODER"-Ansprüche sollten eine zulässige Möglichkeit sein, um auf Alternativen in einem Anspruch zu verweisen. Das Memorandum enthalte die konkreten Beispiele a, b und c, aus denen hervorgehe, wie Prioritäten zu beurteilen seien. Dabei werde nicht zwischen verschiedenen Arten von generischen Ausdrücken unterschieden, und es werde auch nicht als notwendig bezeichnet, Gegenstände nach verschiedenen Prioritäten zu bündeln.
Ihrer Ansicht nach korrekt sei daher der in den Entscheidungen T 1222/11 (vom 4. Dezember 2012, nicht im ABl. EPA veröffentlicht) und T 571/10 (vom 3. Juni 2014, nicht im ABl. EPA veröffentlicht) verfolgte Ansatz, der durch Unterteilung des generischen "ODER"-Anspruchs in konzeptionelle Teile innerhalb und außerhalb des Umfangs der einzelnen Prioritätsoffenbarungen das Problem von toxischer Priorität und Selbstkollision löse (s. die Ausführungen in den Kommentaren von Schulte/Moufang, Patentgesetz mit EPÜ, 9. Auflage 2014, § 41, Rdnr. 44 und Bremi in Singer/Stauder, Europäisches Patentübereinkommen, 7. Auflage 2016, Art. 87, Rdnrn. 34 und 35). Dieser Ansatz entspreche einer Rückkehr zu der vor G 2/98 ergangenen Rechtsprechung.
Eine klare Verneinung der Frage 1 mache eine Beantwortung der Fragen 2 bis 4 überflüssig.
- Vorlagefrage 5
Eine Verneinung der Frage 1 habe zur Folge, dass auch die Frage 5 verneint werden müsse. Die Wahl des Maßstabs "umfasst" für die Teilpriorität bedeute, dass dem europäischen Patentanspruch insoweit eine Teilpriorität zustehe, als er Inhalte aus dem Prioritätsdokument umfasse. Damit habe ein konzeptioneller Teil des Anspruchs immer dasselbe wirksame Datum wie der entsprechende Inhalt der Stamm- oder Teilanmeldung, und keine der Anmeldungen könne je für die andere Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ werden.
Die Beschwerdeführerin sprach sich dafür aus, dass die Große Beschwerdekammer dennoch eine diesbezügliche Auslegung der Artikel 54 (3) und 76 (1) EPÜ vornehmen solle, um insbesondere klarzustellen, dass der Prioritätsanspruch für eine Stamm- und für eine Teilanmeldung entgegen der Argumentation der Beschwerdegegnerin nicht getrennt zu beurteilen sei, weil eine Teilanmeldung das Prioritätsrecht der Stammanmeldung genieße, solange ihr Gegenstand nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe.
VII. Vorbringen der Beschwerdegegnerin
Die Beschwerdegegnerin beantragte, dass die Fragen 1, 2 und 5 im Wesentlichen aus den nachstehenden Gründen bejaht werden sollten.
Der in G 2/98 dargelegte Offenbarungstest für die Anerkennung einer Teilpriorität gestatte nicht, einen generischen "ODER"-Anspruch einfach in zwei oder mehr Teile aufzuspalten, denn gemäß diesem Standard müssten die Anmeldungsunterlagen unmittelbar und eindeutig offenbaren, was der Gegenstand der beanspruchten Priorität(en) sei. So werde der Offenbarungstest für die Zwecke des Artikels 123 (2) EPÜ verstanden. Laut G 2/98 sei derselbe Standard auch bei der Beurteilung der Priorität nach Artikel 87 (1) EPÜ anzuwenden, um festlegen zu können, wie der Begriff "derselben Erfindung" ausgelegt werden solle. Dies sei später in G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413, Nr. 2.2.2 der Entscheidungsgründe) und G 2/10 (ABl. EPA 2012, 276, Nr. 4.6 der Entscheidungsgründe) bestätigt worden.
Die Zuerkennung von Teilprioritäten durch Subsumption wie beim konzeptionellen Ansatz würde zu Widersprüchen führen, weil für Neuheit, unzulässige Erweiterung und Priorität – insbesondere im Falle von zwei nach Artikel 54 (3) EPÜ kollidierenden europäischen Patentanmeldungen – unterschiedliche Standards angewandt würden.
Zudem würde eine Verneinung der Frage 1 dazu führen, dass Prioritätsrechte systematisch ohne Einzelfallprüfung anerkannt würden. Aus G 2/10 (a. a. O., Nr. 4.5.3 der Entscheidungsgründe) gehe aber klar hervor, dass potenzielle Ausführungsformen oder Zwischenverallgemeinerungen, auch wenn sie unter die allgemeine Lehre fielen, nicht allein auf der Grundlage einer schematischen Begründung als implizit offenbart gelten könnten.
Die Bedingung aus G 2/98 (a. a. O., Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) sei als Erfordernis zu sehen, dass der Gegenstand des Anspruchs der Nachanmeldung im Prioritätsdokument unmittelbar und eindeutig offenbart sein müsse. Diese Bedingung bedeute, dass eine Teilpriorität nur dann anerkannt werde, wenn der Fachmann unter den unter das generische Merkmal fallenden Gegenständen nur eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Ausführungsformen ausmachen könne. Im Beispiel a des Memorandums sei dies aufgrund der begrenzten Zahl von Halogenen – nämlich F, Cl, Br, I und At – der Fall, sodass der Anerkennung einer Teilpriorität für Cl nichts entgegenstehe. Dagegen sei in den Beispielen b und c des Memorandums nicht klar festgelegt, welches alle möglichen unter das generische Merkmal fallenden Alternativen seien, sodass die erforderliche unmittelbare und eindeutige Offenbarung fehle.
Das Memorandum sei keine Rechtsnorm, sondern Ausdruck der im Jahr 1973 herrschenden Auffassung, und zum heutigen Zeitpunkt lasse sich daraus nur ableiten, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit schaffen wollte, eine Teilpriorität in Anspruch zu nehmen. Infolge der Entwicklung der Rechtsprechung habe sich das Anwendungsspektrum dieser Möglichkeit inzwischen jedoch verringert.
Laut Artikel 4 F PVÜ sei ein Anmelder berechtigt, eine Priorität für den Patentanspruch einer späteren Anmeldung auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn dieser im Vergleich zur Prioritätsanmeldung zusätzliche Merkmale oder Gegenstände enthalte, und die Anmeldung dürfe nicht aus diesem Grund zurückgewiesen werden. Der Artikel berechtigt den Anmelder jedoch nicht, eine Priorität für den Patentanspruch einer späteren Anmeldung in Anspruch zu nehmen, dessen Gegenstand in der Prioritätsanmeldung nicht offenbart gewesen sei. Somit stehe Artikel 88 (3) EPÜ mit Artikel 4 F PVÜ in Einklang.
Eine Verneinung der Frage 1, wie sie in zahlreichen Amicus-curiae-Schriftsätzen befürwortet werde, würde bedeuten, dass eine Teilpriorität ohne jegliche Bedingungen oder Tests anerkannt werden sollte. Im Übrigen sei nicht nachvollziehbar, warum das Prioritätsrecht aus dem Schutzbereich des Prioritätsdokuments abgeleitet werden sollte, wenn laut dem EPÜ und der Rechtsprechung die Offenbarung der Prioritätsanmeldung maßgeblich sei.
Daher vertrat die Beschwerdegegnerin die Auffassung, dass die Frage 2 ebenfalls bejaht werden sollte und dass im Hinblick auf die Frage 3 die Bedingung einer "beschränkten Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände" so ausgelegt werden sollte, dass keine Teilpriorität anerkannt werde, wenn die Unterscheidung der möglichen Alternativen innerhalb eines generischen "ODER"-Anspruchs für den Fachmann einen unzumutbaren Aufwand darstelle oder der Anspruch mehr als ein generisches Merkmal umfasse oder das generische Merkmal durch Werte- oder Anwendungsbereiche dargestellt sei.
Bezüglich der Frage 5 argumentierte die Beschwerdegegnerin im Wesentlichen, dass sich eine umfangreiche ständige Rechtsprechung entwickelt habe, wonach eine wirksam eingereichte Teilanmeldung zu einer eigenständigen, von der Stammanmeldung unabhängigen Anmeldung werde. Stamm- und Teilanmeldung stünden somit in keiner besonderen Beziehung zueinander, die eine Nichtanwendung des Artikels 54 (3) EPÜ rechtfertigen würde. Diesbezüglich werde in einigen Amicus-curiae-Schriftsätzen die Meinung geäußert, dass zwischen einer Stamm- und einer Teilanmeldung mit derselben Offenbarung und demselben Prioritätsanspruch nie eine Kollision auftreten könne. Die Beschwerdegegnerin hielt dagegen, dass eine solche Kollision nicht ausgeschlossen sei, wenn im Prioritätsintervall Änderungen vorgenommen würden, sodass einigen Teilen der Beschreibung der Prioritätstag zustehe, anderen Teilen jedoch nur der Anmeldetag. Mit anderen Worten könne eine solche Kollision nur infolge eines unwirksamen Prioritätsanspruchs auftreten. Dafür sei aber ausschließlich der Anmelder verantwortlich, der die entsprechenden Änderungen vorgenommen habe, obwohl ihm andere Optionen offen gestanden hätten.
VIII. Stellungnahme des Präsidenten des Europäischen Patentamts
Zur Entstehungsgeschichte von Artikel 88 (2) und (3) EPÜ führte der Präsident des Europäischen Patentamts aus, dass diese Vorschriften auf Artikel 4 F PVÜ basierten und die Teilpriorität eine Variante der Mehrfachpriorität sei, für die keine zusätzlichen Erfordernisse gälten. Die Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten für ein und denselben Anspruch sei durch die Pariser Verbandsübereinkunft nicht abgedeckt. Im Memorandum werde aber vorgeschlagen, dass das Prioritätsrecht für generische "ODER"-Ansprüche so weit wie möglich erleichtert werden sollte. Insbesondere sei den vorbereitenden Arbeiten nicht das Erfordernis zu entnehmen, in einem Anspruch alternative Gegenstände zu nennen. Eine eingehende Analyse von Beschwerdekammerentscheidungen zur Art und Weise der Beurteilung von Prioritätsrechten – insbesondere in Fällen, in denen für einen generischen "ODER"-Anspruch eine Teilpriorität beansprucht werde – habe eine durchgängige Divergenz in der Rechtsprechung aufgezeigt, auch wenn die Große Beschwerdekammer immer wieder erklärt habe, dass der grundlegende Test für die Feststellung, ob ein Gegenstand eine Priorität genieße, der als "Goldstandard" bezeichnete Offenbarungstest sei. Dieser Test sei daher einheitlich auf die Artikel 54, 76 (1), 87 bis 89 und 123 (2) EPÜ anzuwenden.
Bezüglich der Auswirkungen der jetzigen Vorlagefrage wies der Präsident des Amts darauf hin, dass das Prioritätsrecht ein zentrales Element des europäischen Patentsystems sei und die Rechtssicherheit für alle Beteiligten und auf allen Gebieten der Technik von größter Bedeutung sei, vor allem aber in der Chemie und der Pharmazie, wo die Definition (bio-)chemischer Gegenstände besondere Schwierigkeiten aufwerfe (Markush-Ansprüche oder kontinuierliche Bereiche numerischer Werte). Hier sei der Klärungsbedarf besonders groß, ob die Beispiele aus dem Memorandum weiterhin für die Auslegung von Artikel 88 (2) Satz 2 und (3) EPÜ maßgeblich seien und wie sich die genaue Bedeutung und Anwendung des Ausdrucks "eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände" in G 2/98 gestalte. Ein weiterer Aspekt sei das Begründungserfordernis bei der Identifizierung alternativer Gegenstände innerhalb eines generischen "ODER"-Anspruchs, das dem Anmelder zu obliegen scheine, der in den Genuss des Prioritätsrechts kommen wolle. Eine Sichtung von Gerichtsurteilen aus EPÜ-Vertragsstaaten habe ergeben, dass die Rechtsprechung bezüglich der Erfordernisse für die Feststellung "desselben Gegenstands" nach den Vorschriften der Artikel 87 bis 89 EPÜ noch in Entwicklung begriffen sei, wobei einige Gerichte einen großzügigen Ansatz verfolgten und andere scheinbar eher skeptisch gegenüber dem Recht auf eine Teilpriorität für Alternativen seien, die in einem generischen "ODER"-Anspruch nicht als solche genannt seien. Zudem verwendeten einige Gerichte denselben Offenbarungsmaßstab für die Beurteilung von Neuheit, unzulässiger Erweiterung und Priorität, während andere den für Neuheit und unzulässige Erweiterung geltenden Test nur in beschränktem Umfang auch auf die Priorität anzuwenden schienen. In der Literatur sei dasselbe Phänomen zu beobachten.
Der Präsident des Amts folgerte, dass die Anerkennung einer Teilpriorität für einen generischen "ODER"-Anspruch, der "in Form eines generischen Begriffs bzw. einer Formel oder anderweitig" alternative Gegenstände umfasse, nicht mit dem Erfordernis vereinbar zu sein scheine, wonach die alternativen Gegenstände genannt werden müssten, sodass die von einigen Beschwerdekammern verfolgte strenge Vorgehensweise im Widerspruch zur Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer zu stehen scheine. Gleichzeitig könnte der weiter gefasste Ansatz zu abstrakt sein angesichts der Bedingung "sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird", weswegen der Aufwand für die Öffentlichkeit, eine Vielzahl von Alternativen zu ermitteln, berücksichtigt werden sollte.
Die Frage 5 sollte aus der Sicht des Präsidenten des Amts verneint werden. Eine Bejahung dieser Frage würde dem Sinn und Zweck von Teilanmeldungen im Patentsystem zuwiderlaufen.
IX. In den Amicus-curiae-Schriftsätzen vorgebrachte Argumente für eine Bejahung der Frage 1
In den Amicus-curiae-Schriftsätzen wurden folgende Hauptargumente für eine Bejahung der Frage 1 vorgebracht:
- Die Teilpriorität sei ein Konzept, das weder in der Pariser Verbandsübereinkunft noch im EPÜ ausdrücklich genannt sei. Daher müsse der Begriff "derselben Erfindung" unter Berücksichtigung der in Artikel 4 F PVÜ verankerten Bedingung der Erfindungseinheit sowie des in G 2/98 (a. a. O., Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) verfolgten strengen Ansatzes eng ausgelegt werden.
- Würde eine "wörtliche" Auslegung der Bedingung "sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird", wonach diese beanspruchten Gegenstände ausdrücklich zu nennen sind, zugunsten des in T 1222/11 gewählten "konzeptionellen" Ansatzes aufgegeben, würde dies zu einer Rechtsunsicherheit für die Nutzer des europäischen Patentsystems führen. In der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer werde betont, dass die Grundidee des Artikels 123 (2) EPÜ darin bestehe, dass es einem Anmelder nicht gestattet sein dürfe, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern (G 1/03; G 3/89, ABl. EPA 1993, 117). Ebenso sei in G 2/98 erläutert worden, dass eine enge Auslegung des Begriffs "derselben Erfindung" notwendig sei, um eine sinnvolle Ausübung von Prioritätsrechten sicherzustellen, die unter anderem in vollem Einklang stehe mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Anmeldern und Dritten und der Rechtssicherheit sowie mit den Grundsätzen für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit (Nr. 9 der Begründung der Stellungnahme). Diese Grundsätze von Gleichbehandlung und Rechtssicherheit fänden somit auch auf die Artikel 87 und 88 EPÜ Anwendung, sodass bei der Beurteilung einer Teilpriorität untersucht werden müsse, ob dem Anmelder oder Patentinhaber zu einem ungerechtfertigten Vorteil verholfen werde, der die Rechtssicherheit für Dritte verringern könnte. Diesem Aspekt sei in T 1222/11 nicht ausreichend Beachtung geschenkt worden. Wenn die Ansprüche der späteren Anmeldung auf gegenüber dem Prioritätsdokument erweiterte Bereiche der Komponenten A, B und C gerichtet seien, aber keine Beschreibung der in der früheren Anmeldung offenbarten Zusammensetzung enthielten, könne die Öffentlichkeit nicht wissen, dass diese konkrete Zusammensetzung eine entscheidende Ausführungsform der in der späteren, die Priorität beanspruchenden Anmeldung beschriebenen Erfindung sei. Ebenso könnte der Anmelder auch Priorität für eine andere Auswahl der Komponenten A und B beanspruchen, wenn im Prioritätsdokument A, B und D offenbart worden seien, und auf die letzte Komponente D verzichten. Der konzeptionelle Ansatz könnte dazu führen, dass eine willkürliche Unterteilung des beanspruchten Gegenstands gestattet werde, die keine Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung haben müsse. Die Erkenntnis aus der Rechtsprechung, dass eine Prioritätsanmeldung kein "Reservoir" für Änderungen der Ansprüche sei, würde ebenso missachtet wie die Grundsätze im Hinblick auf Auswahlerfindungen.
- Wenn die Anerkennung von Teil- oder Mehrfachprioritäten als Schutz vor einer "Selbstkollision" zwischen einem eine Art beanspruchenden Prioritätsdokument und einer eine Gattung beanspruchenden späteren Anmeldung gesehen werde, sollte die Priorität nur in Verbindung mit Maßnahmen anerkannt werden, die eine Doppelpatentierung verhinderten und im generischen Anspruch der Nachanmeldung eine genaue Abgrenzung der in den jeweiligen Prioritätsdokumenten offenbarten Gegenstände ermöglichten, damit die einzelnen Ausführungsformen unterschieden werden könnten, für die unterschiedliche Prioritätsdaten in Anspruch genommen würden.
Zur Vermeidung von Doppelpatentierungen (oder Mehrfachpatentierungen) wurde vorgeschlagen, dass in die Ansprüche der späteren Anmeldung ein Disclaimer aufgenommen werden sollte, der die im Prioritätsdokument offenbarte Art ausschließe, und zwar auf der Grundlage von G 1/03 oder G 2/10, je nachdem, ob der konkrete Gegenstand der früheren Anmeldung in der späteren Anmeldung offenbart werde oder nicht.
Für Fälle, in denen eine Teilpriorität anerkannt werden solle, wurde Folgendes vorgeschlagen:
- Das Problem der Selbstkollision würde dadurch gelöst, dass der konkretere Gegenstand aus dem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ ausgeschlossen würde.
- Der Gegenstand des Prioritätsdokuments sollte in der späteren Anmeldung offenbart sein.
X. In den Amicus-curiae-Schriftsätzen vorgebrachte Argumente für eine Verneinung der Frage 1
In den meisten Amicus-curiae-Schriftsätzen wurde für eine Verneinung der Frage 1 plädiert. In Anbetracht des Ausgangs der Entscheidung über die Vorlage erscheint es allerdings nicht notwendig, die angeführten Argumente im Einzelnen darzulegen.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit der Vorlage
In einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, nämlich der Frage der Teilpriorität, entwickelt sich die Rechtsprechung der Beschwerdekammern eindeutig in zwei verschiedene Richtungen.
Somit sind die Erfordernisse des Artikels 112 (1) a) EPÜ erfüllt, wonach zur Sicherung einer einheitlichen Anwendung des EPÜ eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erforderlich ist. Darin sind sich die Beteiligten einig.
2. Kontext der Vorlage
2.1 Eine neue, die Teilpriorität verneinende Richtung wurde mit der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 2/98 (a. a. O., Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) eingeschlagen, wo es wie folgt heißt:
"In Bezug auf den "ODER"-Anspruch […] ist dem Memorandum Folgendes zu entnehmen: Wenn ein erster Prioritätsbeleg ein Anspruchsmerkmal A offenbart und ein zweiter Prioritätsbeleg ein Anspruchsmerkmal B als eine Alternative zu A, so kann ein Anspruch, der auf A oder B gerichtet ist, die erste Priorität für den Teil A des Anspruchs und die zweite Priorität für den Teil B des Anspruchs beanspruchen. Ferner wird ausgeführt, dass beide Prioritäten auch für einen auf C gerichteten Anspruch beansprucht werden können, wenn das Anspruchsmerkmal C in Form eines generischen Begriffs bzw. einer Formel oder anderweitig sowohl A als auch B umfasst. Die Verwendung eines generischen Begriffs oder einer Formel in einem Anspruch, für den gemäß Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ mehrere Prioritäten beansprucht werden, ist nach den Artikeln 87 (1) und 88 (3) EPÜ durchaus akzeptabel, sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird" (Hervorhebung durch die Kammer).
2.2 In verschiedenen Entscheidungen der Beschwerdekammern wurde der oben durch Fettdruck hervorgehobene letzte Teil des dritten Satzes als Grundlage für die Verweigerung einer Teilpriorität für einen generischen "ODER"-Anspruch herangezogen. Der Zweckmäßigkeit halber werden im Folgenden die Zusammenfassungen dieser Entscheidungen wiedergegeben, die aus den Entscheidungsgründen der Vorlageentscheidung T 557/13 stammen.
Erweiterung generischer chemischer Formeln
In der Sache T 1127/00 war Anspruch 1 auf eine generische Formel gerichtet, die eine Vielzahl alternativer Verbindungen einschloss. Die Kammer stellte fest, dass die alternativen Verbindungen als solche im Anspruch nicht eigens genannt seien, und die Tatsache, dass sie denkgesetzlich unter den Anspruch fallen könnten, ein klares und eindeutiges Vorhandensein dieser – als solche einzeln aufgeführten – Alternativen im Anspruch nicht ersetzen könne. Anspruch 1 beziehe sich nicht in Form eines "ODER"-Anspruchs auf eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände, die in Gruppen mit jeweils unterschiedlicher Priorität unterteilt werden könnten. Somit könne Anspruch 1 nicht die Teilpriorität eines Prioritätsdokuments zukommen, sondern lediglich der Prioritätstag des Dokuments, in dem die generische Formel erstmals offenbart worden sei. Dies sei nicht das früheste Prioritätsdokument, denn darin seien nur speziellere synthetische Ribozyme offenbart. Diese fielen zwar unter die generische Formel des Anspruchs 1, doch enthalte das Prioritätsdokument keine klare und eindeutige Offenbarung der breiten generischen Gruppe, die durch diese Formel repräsentiert werde. Somit stehe Anspruch 1 nicht der früheste Prioritätstag zu (Nrn. 5 bis 7 der Entscheidungsgründe).
In der Sache T 2311/09 (Nrn. 2 bis 4 der Entscheidungsgründe) war Anspruch 1 auf Eotaxin-Proteine gerichtet, die eine Aminosäuresequenz "mit wenigstens 40 % Identität" zu einer bestimmten anderen Sequenz umfassten und Varianten einschlossen, die in keinem der beiden Prioritätsdokumente offenbart waren. Folglich wurde die Priorität nicht dem gesamten Anspruch zuerkannt. Ebenso wenig wurde ihm eine Teilpriorität insoweit zuerkannt, als er Proteine mit 100%iger Sequenzidentität umfasste, obwohl die betreffende Sequenz in einem Prioritätsdokument offenbart gewesen zu sein schien. Diesbezüglich befand die Kammer, Anspruch 1 umfasse "nicht eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände (s. G 2/98, Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme)".
Erweiterung chemischer Zusammensetzungen
In der Sache T 184/06 (Nr. 6 der Entscheidungsgründe) wurde dem Anspruch keine Teilpriorität zuerkannt, obwohl er Zusammensetzungen umfasste, die im Prioritätsdokument enger offenbart waren (engerer Alkoxylierungsbereich eines Bestandteils, zusätzlicher Bestandteil). Die Kammer entschied, dass die Merkmalkombination des Anspruchs 1 nicht direkt und unmittelbar dem Prioritätsdokument entnommen werden könne (Art. 87 (1) EPÜ sowie G 2/98, Leitsatz und Nr. 9 der Begründung der Stellungnahme). Zudem betreffe Anspruch 1 eine Stoffzusammensetzung, die durch eine Kombination von Merkmalen charakterisiert sei, die nicht isoliert voneinander betrachtet werden könnten. Der Gegenstand umfasse "alles, was in seinen durch seine wesentlichen Merkmale definierten Schutzbereich fällt," und "bezieht sich nicht auf spezielle, voneinander trennbare Alternativen mit unterschiedlichem Umfang, für die unterschiedliche Prioritäten in Anspruch genommen werden könnten" (Art. 88 (2) und (3) EPÜ).
In der Sache T 1443/05 betraf Anspruch 1 eine Zusammensetzung aus zwei Bestandteilen, wobei das Vorhandensein eines bestimmten dritten, als nachteilig erachteten Bestandteils durch einen Disclaimer ausgeklammert war. Beansprucht wurde die Priorität einer früheren europäischen Patentanmeldung, in der als Ausführungsbeispiele Zusammensetzungen genannt waren, die die ersten beiden Bestandteile, aber nicht den dritten enthielten, in der jedoch auch die Möglichkeit erwähnt war, den dritten Bestandteil hinzuzufügen. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht dieselbe Erfindung (Art. 87 (1) EPÜ) betreffe wie die im Prioritätsdokument offenbarte. Dem Anspruch als Ganzes wurde der beanspruchte Prioritätstag also aberkannt (Nr. 4.1.11 der Entscheidungsgründe). Zudem entschied die Kammer mit Verweis auf G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme), dass, obwohl die Beispiele des Prioritätsdokuments von Anspruch 1 umfasst seien, im generischen Wortlaut des Anspruchs keine eindeutige Alternative bestimmt werden könne, die die Beispiele umfasse (Nr. 4.2.6 der Entscheidungsgründe). Die in der europäischen Prioritätsanmeldung beispielhaft angeführten Zusammensetzungen, die den dritten Bestandteil nicht umfassten, wurden somit für neuheitsschädlich nach Artikel 54 (3) EPÜ befunden.
Erweiterung von Wertebereichen
In der Sache T 1877/08 war Anspruch 1 auf eine Mischung aus drei Bestandteilen gerichtet, die in relativen Mengen von 30 bis 65 Gew.-%, 1 bis 10 Gew.-% bzw. 33 bis 69 Gew.-% vorlagen. Das Patent beanspruchte die Priorität einer amerikanischen Anmeldung, in der eine Mischung derselben Bestandteile offenbart war, allerdings in enger eingegrenzten Mengen von 30 bis 55 Gew.-%, 2 bis 10 Gew.-% bzw. 35 bis 65 Gew.-% (Hervorhebung durch die vorlegende Kammer). Die Kammer entschied, dass die Merkmalkombination des Anspruchs 1 nicht direkt und unmittelbar dem Prioritätsdokument entnommen werden könne (Art. 87 (1) EPÜ sowie G 2/98). Die beanspruchten Mengen stellten einen kontinuierlichen Bereich numerischer Werte dar, die keinen voneinander trennbaren alternativen Ausführungsarten entsprächen (Art. 88 (2) und (3) EPÜ). Folglich ließen sich innerhalb dieses kontinuierlichen Bereichs keine trennbaren alternativen Ausführungsarten – d. h. keine Merkmale im Sinne von Artikel 88 (3) EPÜ – ausmachen, für die ein Anspruch auf den Prioritätstag bestanden hätte, weswegen dem Anspruch 1 als Ganzes die Priorität verweigert wurde.
In der Sache T 476/09 betraf Anspruch 1 eine Tonerzusammensetzung, die unter anderem durch eine mittlere "Rundheit" der Tonerteilchen (eine physikalische Eigenschaft dieser Teilchen) gekennzeichnet war, welche in Form eines kontinuierlichen Bereichs "von 0,930 bis 0,990" definiert war (Hervorhebung durch die vorlegende Kammer). Obwohl im ersten Prioritätsdokument ein Toner mit allen Merkmalen des strittigen Anspruchs 1, aber einem engeren Bereich für die Rundheit "von 0,94 bis 0,99" offenbart war, erkannte die Kammer dem Anspruch noch nicht einmal eine Teilpriorität zu. Sie befand, dass der beanspruchte Bereich einen kontinuierlichen Bereich numerischer Werte darstelle, die keinen voneinander trennbaren alternativen Ausführungsarten entsprächen (G 2/98, Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme und T 1877/08). Somit konnte sie in diesem kontinuierlichen Bereich keine trennbaren alternativen Ausführungsarten ausmachen, für die ein Anspruch auf den Prioritätstag bestanden hätte.
Sonstige Verallgemeinerungen
In der Sache T 1496/11 bezog sich Anspruch 1 des (Stamm-)Patents auf ein Wertzeichendokument mit einer Wertzeicheneinheit, die "ein Merkmal (10) aufweist, welches inspiziert, vergrößert oder durch die optische Linse […] optisch verändert werden kann". Im Prioritätsdokument war für diesen Zweck lediglich ein "gedrucktes oder bombiertes" Merkmal offenbart. Die Kammer kam zu dem Ergebnis (Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe), dass der beanspruchte Gegenstand durch Weglassung dieser präziseren Angabe verallgemeinert worden sei und somit auch Wertzeicheneinheiten mit auf andere Weise erzeugten Merkmalen umfasse. Folglich handle es sich nicht um dieselbe Erfindung wie die im Prioritätsdokument beschriebene (Art. 87 (1) EPÜ). Dem Gegenstand des Anspruchs 1 wurde daher nur der Anmeldetag der Stammanmeldung zuerkannt, auf die das Patent erteilt worden war. Die Kammer stellte weiter fest, dass eine in der veröffentlichten europäischen Teilanmeldung offenbarte Ausführungsform für den Gegenstand des Anspruchs 1 neuheitsschädlich nach Artikel 54 (3) EPÜ sei. Diese Ausführungsform sei im Prioritätsdokument in identischer Weise offenbart gewesen, sodass ihr der beanspruchte Prioritätstag zustehe. Sie nehme somit den Gegenstand des Anspruchs 1 der Stammanmeldung vorweg, dem das Prioritätsrecht aberkannt worden war.
2.3 Wie den obigen Zusammenfassungen zu entnehmen ist, hat die Erweiterung einer chemischen Formel, eines Wertebereichs oder einer chemischen Zusammensetzung bzw. die Vornahme sonstiger Verallgemeinerungen gegenüber der im Prioritätsdokument ausführbar offenbarten Erfindung dazu geführt, dass keine Teilpriorität zuerkannt wurde, weil im Anspruch der späteren Anmeldung keine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände genannt war, auch wenn das Erfordernis der Identität der Erfindung zumindest in Bezug auf einige der im Prioritätsdokument offenbarten und von dem generischen "ODER"-Anspruch umfassten Alternativen erfüllt war.
2.4 In der Vorlageentscheidung T 557/13 wurden aber auch verschiedene seit G 2/98 ergangene Entscheidungen zusammengefasst, mit denen unter vergleichbaren Umständen eine Teilpriorität zuerkannt wurde.
In der Sache T 135/01 bezog sich Anspruch 1 auf ein Verfahren zur Ansteuerung eines Elektromotors, das einen ersten und einen zweiten Stromschaltschritt umfasste, wobei der Zeitabstand zwischen diesen beiden als der Bereich ¼ < ô < ¾ definiert war. Die Kammer entschied (Nr. 5 der Entscheidungsgründe), dass "Anspruch 1 […] für die Zwecke der Prioritätsbestimmung als zweigeteilt aufgefasst werden muss, nämlich als unterteilt in einen ersten theoretischen Teilanspruch, der einen Bereich für das Schaltintervall von 'ungefähr = ô/2' definiert und dem der Prioritätstag der GB-Anmeldung […] [Prioritätsdokument] zusteht, und in einen zweiten theoretischen Teilanspruch für den übrigen Bereich von ¼ < ô < ¾ ausgenommen des Bereichs von 'ungefähr = ô/2', dem als Priorität nur der tatsächliche Anmeldetag zusteht und für den daher die Zwischenveröffentlichung D13 [Konferenzbericht] zum Stand der Technik gehört", denn in der Zwischenveröffentlichung war der Bereich von "ungefähr =ô/2" ebenfalls offenbart. Ohne ausdrücklich auf G 2/98 zu verweisen oder auf die Kriterien unter Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme einzugehen, erkannte die Kammer somit die Teilpriorität für den engeren Bereich an, der im Prioritätsdokument offenbart und von dem breiteren Bereich in Anspruch 1 umfasst war, auch wenn er nicht eigens genannt war.
In der Sache T 665/00 war Anspruch 10 auf ein kosmetisches Puder gerichtet, das hohle Mikrosphären enthielt, die unter anderem durch eine "spezifische Masse unter 0,1 g/cm3" gekennzeichnet waren, wobei dieser Bereich im Prioritätsdokument nicht offenbart war. Ein Neuheitseinwand war erhoben und mit einer angeblichen offenkundigen Vorbenutzung innerhalb des Prioritätszeitraums begründet worden. Mit Verweis auf Artikel 88 (3) EPÜ und G 2/98 (a. a. O., Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) erklärte die Kammer, dass unterschiedliche Elemente einer Patentanmeldung unterschiedliche Prioritätstage haben könnten und dies auch für einen einzigen Anspruch gelte, der mehrere Alternativen umfasse und somit in mehrere Einzelgegenstände aufgespalten werden könne (Nr. 3.5 der Entscheidungsgründe). Nach Auffassung der Kammer (Nr. 3.5.1 der Entscheidungsgründe) lasse es der generische Ausdruck "spezifische Masse unter 0,1 g/cm3" zu, eine Gruppe hohler Mikrosphären zu definieren, d. h. alternative Möglichkeiten zur Ausführung der Erfindung, denen entsprechend ein Prioritätstag zuerkannt werden könne. Im Prioritätsdokument seien als Beispiel Puder mit hohlen Mikrosphären des Typs "Expancel DE" angeführt, deren spezifische Masse in den Bereich falle, der in den Ansprüchen definiert sei. Unter den von Anspruch 10 umfassten Alternativen stünde also jenen der beanspruchte Prioritätstag zu, die sich auf Puder mit "Expancel DE"-Mikrosphären bezögen. Die geltend gemachte Vorbenutzung, die ein Puder betraf, das dieselben Mikrosphären des Typs "Expancel DE" enthielt, konnte deshalb nicht neuheitsschädlich sein.
Somit wurde in dieser Entscheidung einem generischen "ODER"-Anspruch Teilpriorität zuerkannt, der als generischen Ausdruck einen bestimmten Massebereich umfasste, welcher im Prioritätsdokument nicht als solcher offenbart war und eine Verallgemeinerung der spezielleren Offenbarung in den Beispielen des Prioritätsdokuments darstellte, genauer gesagt der implizit offenbarten spezifischen Masse der verwendeten "Expancel DE"-Mikrosphären. Die Feststellung, dass dem Anspruch die Teilpriorität insoweit zustehe, als er bestimmte, im Prioritätsdokument offenbarte Alternativen umfasste, beruhte auf einem bloßen Vergleich des Umfangs des Anspruchs mit dem Inhalt des Prioritätsdokuments. Die Entscheidung enthält keine weiteren gezielten Bezugnahmen auf die Kriterien der "beschränkten Zahl" und der "eindeutig definierten alternativen Gegenstände" aus G 2/98 (a. a. O., Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme).
In der Sache T 1222/11 (Nr. 11 der Entscheidungsgründe) befürwortete die Kammer in einem obiter dictum die folgende Auslegung der in G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) aufgestellten Bedingung:
- Die in G 2/98 formulierte Bedingung könne nicht – wie in den angeführten Entscheidungen angenommen – so zu verstehen sein, dass der Gegenstand eines "ODER"-Anspruchs in einer bestimmten Weise definiert sein müsse, damit "dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird", denn dies würde – zumindest in Bezug auf generische Definitionen – im Widerspruch zu dem auf dem Grundsatz einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung basierenden Offenbarungstest stehen (G 3/89).
Zu diesem Schluss kam die Kammer aufgrund folgender Erwägungen:
- Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme betreffe ausschließlich die Frage der Beanspruchung mehrerer Prioritäten für ein und denselben "ODER"-Anspruch. Der Verweis auf Artikel 88 (3) EPÜ sei als Hinweis der Großen Beschwerdekammer zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Prüfung der Voraussetzungen des Artikels 88 (3) EPÜ vorgenommen werden könne, wenn der "ODER"-Anspruch unter Verwendung eines generischen Begriffs oder einer generischen Formel abgefasst sei.
- Diese Prüfung könne nur durch einen Vergleich des im "ODER"-Anspruch beanspruchten Gegenstands mit der Offenbarung der verschiedenen Prioritätsdokumente vorgenommen werden.
- Daher beziehe sich die Formulierung, dass "dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird", im Zusammenhang mit dieser Prüfung auf die Möglichkeit, durch diesen Vergleich diejenigen alternativen Gegenstände abstrakt zu ermitteln, denen sich mehrere beanspruchte Prioritätsrechte zuordnen ließen oder nicht. Dies sei notwendig, damit festgestellt werden könne, welche Teile des Anspruchs von der Wirkung des Prioritätsrechts nach Artikel 89 EPÜ profitierten.
Zudem entspreche der letzte Satz unter Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme G 2/98 dem Memorandum, das nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die Absicht des Gesetzgebers in Bezug auf Mehrfachprioritäten widerspiegle. Nacheinander auf die im Memorandum angeführten Beispiele eingehend, erläuterte die Kammer, wie in jedem einzelnen Fall die Priorität in Einklang mit G 2/98 (Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) anerkannt werden könnte. Insbesondere Beispiel c des Memorandums belege, dass die Zuerkennung unterschiedlicher Prioritätstage "nicht nur Ansprüchen vorbehalten ist, die für sich genommen eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände definieren" (Nr. 11.5.7 der Entscheidungsgründe). Im Übrigen gebe es keinen Grund, warum die Bedingung aus G 2/98 bei der Prüfung einer Teilpriorität in Bezug auf ein einziges Prioritätsdokument eine andere sein sollte (Nr. 11.6 der Entscheidungsgründe).
Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass die Entscheidung, ob einem im Prioritätsdokument offenbarten und von einem "ODER"-Anspruch umfassten Gegenstand eine Priorität zuerkannt werden könne, nicht davon abhänge, ob dieser Gegenstand im Anspruch ausdrücklich als gesonderte Alternative ausgewiesen sei.
In der Sache T 571/10 wurde ausdrücklich der in T 1222/11 entwickelte Ansatz angewendet. Die Kammer stellte fest (Nr. 4.5.14 der Entscheidungsgründe), dass der Anspruch zwei alternative Gruppen von Gegenständen umfasse, auch wenn diese darin nicht eigens genannt seien: Alternative a betreffend die Verwendung einer speziellen Zusammensetzung (Kalziumsalz der Säure als Wirkstoff und tribasisches Phosphatsalz mit mehrwertigem Kation) und Alternative b betreffend die Verwendung einer allgemeiner definierten Zusammensetzung (die Säure oder ein geeignetes Salz der Säure als Wirkstoff und ein anorganisches Salz mit mehrwertigem Kation, wobei der Wirkstoff und das anorganische Salz nicht das Kalziumsalz der Säure und ein tribasisches Phosphatsalz in Kombination sind). Alternative a war ein im Prioritätsdokument offenbarter Gegenstand, der als solcher im Anspruch nicht definiert, aber von diesem umfasst war. Alternative b war der übrige Gegenstand des Anspruchs, der im Prioritätsdokument nicht offenbart war. Die Kammer entschied, dass dem Gegenstand der Alternative a die Priorität zukomme, dem der Alternative b jedoch nicht. Somit war die parallele europäische Patentanmeldung D9, die die Priorität derselben früheren Anmeldung beanspruchte wie das Streitpatent und in der dieselben beiden Alternativen a und b offenbart waren, kein Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ für Alternative a, weil sie kein früheres wirksames Datum hatte als diese Alternative. Für Alternative b war sie Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ, aber nicht neuheitsschädlich, denn die Alternativen a und b überlappten sich nicht.
3. Umfang der Vorlage
Aus der Vorlageentscheidung geht eindeutig hervor, dass die in der Rechtsprechung entstandene Divergenz durch die Bedingung in Nummer 6.7 der Begründung der Stellungnahme G 2/98 verursacht wurde. Insbesondere wurde die Formulierung "sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird" in verschiedenen späteren Entscheidungen als weiteres Erfordernis verstanden, das erfüllt sein muss, damit einem Anspruch Teilpriorität zuerkannt wird. Die Große Beschwerdekammer wird die einschlägigen Vorschriften des EPÜ und die entsprechenden Vorschriften der Pariser Verbandsübereinkunft analysieren, um beurteilen zu können, ob die Aufnahme zusätzlicher Bedingungen und/oder Beschränkungen mit den wesentlichen Grundsätzen des Prioritätsrechts in Einklang steht. Dazu wird sie zunächst auf die Charakteristika, Voraussetzungen und Wirkungen des Prioritätsrechts im Allgemeinen (siehe Nr. 4) und dann auf konkrete Fragen der Teil- und Mehrfachprioritäten (siehe Nr. 5) eingehen. Schließlich wird sie sich damit befassen, ob zusätzliche materiellrechtliche Bedingungen Anwendung finden und wie das Prioritätsrecht zu beurteilen ist (siehe Nr. 6).
4. Rechtlicher Rahmen des Prioritätsrechts
4.1 Priorität als Rechtsanspruch
Artikel 87 (1) EPÜ lautet wie folgt:
"Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für
a) einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums oder
b) ein Mitglied der Welthandelsorganisation
eine Anmeldung für ein Patent […] vorschriftsmäßig eingereicht hat, […] genießt für die Anmeldung derselben Erfindung zum europäischen Patent während einer Frist von zwölf Monaten nach dem Anmeldetag der ersten Anmeldung ein Prioritätsrecht."
Dieser Wortlaut entspricht Artikel 4 PVÜ, dessen Absatz A (1) wie folgt lautet:
"Wer in einem der Verbandsländer die Anmeldung für ein Erfindungspatent […] vorschriftsmäßig hinterlegt hat, […] genießt für die Hinterlegung in den anderen Ländern während der unten bestimmten Fristen ein Prioritätsrecht."
4.2 Materiellrechtliche Bedingung "derselben Erfindung"
Neben Formerfordernissen (wie Einreichung einer Erklärung, Identität des Anmelders, 12-Monatsfrist) besteht die einzige im EPÜ (und in der Pariser Verbandsübereinkunft) vorgeschriebene materiellrechtliche Bedingung für die wirksame Inanspruchnahme des Prioritätsrechts darin, dass das Prioritätsdokument und die spätere Anmeldung dieselbe Erfindung betreffen müssen (Art. 87 (1) EPÜ). In Artikel 4 C (4) PVÜ heißt es "denselben Gegenstand". Inhaltlich besteht hier aber eindeutig kein Unterschied.
Grundsätzlich kann ein Recht, das in einem internationalen Vertrag, einem internationalen Übereinkommen oder einer nationalen Rechtsvorschrift verankert ist, nicht dadurch eingeschränkt werden, dass in Verwaltungsvorschriften oder -richtlinien oder auch in der Rechtsprechung zusätzliche Bedingungen aufgestellt werden.
4.3 Wirkungen des Prioritätsrechts
4.3.1 Artikel 89 EPÜ lautet wie folgt: "Das Prioritätsrecht hat die Wirkung, dass für die Anwendung des Artikels 54 Absätze 2 und 3 sowie des Artikels 60 Absatz 2 der Prioritätstag als Tag der europäischen Patentanmeldung gilt."
4.3.2 Diese Vorschrift stellt klar, dass das Prioritätsrecht den Anmelder vor Dritten schützen soll, die innerhalb der 12-Monatsfrist nach der Erstanmeldung eine Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreichen. Sie ist in Verbindung mit Artikel 60 (1) und (2) EPÜ zum Recht auf das europäische Patent zu sehen: Dieses Recht steht dem Erfinder und im Konfliktfall dem Erstanmelder zu.
4.3.3 Sofern in der Anmeldung dieselbe Erfindung beansprucht wird, die in der Prioritätsunterlage offenbart wurde, kann der Gegenstand, dem das Prioritätsrecht zukommt, dieser Anmeldung nicht als Stand der Technik nach Artikel 54 (2) oder (3) EPÜ entgegengehalten werden. Die einschlägigen Vorschriften (Art. 89 und 54 EPÜ) sind somit konsistent. Die Rechtsfiktion, wonach die spätere Anmeldung – soweit sie denselben Gegenstand betrifft wie die Erstanmeldung – als am Anmeldetag dieser Erstanmeldung eingereicht gilt, schafft eine Art Hindernis davor, dass Dritte das Recht des Anmelders beschneiden, Schutz für den beanspruchten Gegenstand zu erhalten, der in der früheren Anmeldung erstmals offenbart wurde. Was für Dritte gilt, gilt ebenso für den Anmelder selbst.
4.3.4 Ein Neuheitseinwand ist somit nur erfolgreich, wenn keine Priorität zuerkannt werden kann.
In G 3/93 (ABl. EPA 1995, 18) befand die Große Beschwerdekammer bereits Folgendes: "In Artikel 89 EPÜ ist festgelegt, welche Wirkung das Prioritätsrecht entfaltet unter der Prämisse, dass die Voraussetzungen für seine Entstehung erfüllt sind, nämlich unter anderem das Erfordernis, dass die Erfindung dieselbe sein muss. […] Wenn eine Priorität beansprucht wird, aber nicht zuerkannt werden kann, weil die wesentliche Voraussetzung nicht erfüllt ist, dass die Erfindung in beiden Fällen dieselbe ist, so entsteht auch kein Prioritätsrecht. Infolgedessen kann jede Veröffentlichung des Inhalts des Prioritätsdokuments in dem Zeitraum zwischen dessen Einreichung und der Einreichung der europäischen Patentanmeldung, in der die Priorität dieses Dokuments in Anspruch genommen wird, denjenigen Bestandteilen der europäischen Patentanmeldung als neuheitsschädlich entgegengehalten werden, für die kein Prioritätsanspruch besteht" (Nrn. 8 und 9 der Entscheidungsgründe).
4.3.5 In Artikel 4 B PVÜ sind die Wirkungen des Prioritätsrechts wie folgt festgelegt:
"Demgemäß kann die spätere […] Hinterlegung nicht unwirksam gemacht werden durch inzwischen eingetretene Tatsachen, insbesondere durch eine andere Hinterlegung, durch die Veröffentlichung der Erfindung oder deren Ausübung […]; diese Tatsachen können kein Recht Dritter und kein persönliches Besitzrecht begründen. […]"
In seinem Kommentar zur "Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums" (Ausgabe 1971, S. 33 f.) stellt Bodenhausen im Zusammenhang mit dieser Vorschrift fest: "die Wirkung der späteren Hinterlegung darf nicht schwächer sein, als sie es wäre, wenn die spätere Hinterlegung zugleich mit der ersten prioritätsbegründenden Hinterlegung […] erfolgt wäre", und erläutert weiter, dass weder die Hinterlegung einer anderen Anmeldung noch eine "Veröffentlichung oder Ausübung der Erfindung innerhalb der Prioritätsfrist durch den früheren Anmelder oder durch Dritte […] die spätere Anmeldung, für die die Priorität beansprucht wird, […] unwirksam machen oder beeinträchtigen [kann]; insbesondere kann dadurch weder die Neuheit der Erfindung zerstört noch die darin verkörperte Erfindungshöhe geschmälert werden, da es hierfür auf den Zeitpunkt der Hinterlegung der prioritätsbegründenden Anmeldung ankommt."
Dieselbe Auffassung wird von Mathély in "Le Nouveau Droit Français des Brevets d'Invention" (1992, S. 596 f.) im Kapitel zum Unionsrecht wie folgt geäußert: "La priorité accorde au brevet correspondant une immunité contre les faits de divulgation et d'usurpation qui peuvent s'être produits depuis la première demande prioritaire". Weiter stellt er Folgendes fest: "la priorité met l'inventeur à l'abri, non seulement des antériorités des tiers, mais encore de sa propre divulgation".
Diese Autoren haben den Umfang des Prioritätsrechts klar und mit deutlichen Worten umrissen.
4.4 Aus dem Wortlaut der Rechtstexte und aus der Logik des zugrunde liegenden Konzepts lässt sich somit schließen, dass das im EPÜ (und in der Pariser Verbandsübereinkunft) verankerte Prioritätsrecht dazu dient, die Kollision von innerhalb der Prioritätsfrist offenbarten Gegenständen mit in einem Prioritätsdokument offenbarten identischen Gegenständen auszuschließen, sofern die Priorität wirksam in Anspruch genommen wurde.
5. Teil- und Mehrfachprioritäten
5.1 Vorschriften des EPÜ
5.1.1 Die maßgeblichen Vorschriften für Teil- und Mehrfachprioritäten sind in Artikel 88 (2) und (3) EPÜ zu finden.
Artikel 88 (2) Sätze 1 und 2 besagen Folgendes: "Für eine europäische Patentanmeldung können mehrere Prioritäten in Anspruch genommen werden, selbst wenn sie aus verschiedenen Staaten stammen. Für einen Patentanspruch können mehrere Prioritäten in Anspruch genommen werden."
Artikel 88 (3) EPÜ lautet wie folgt: "Werden eine oder mehrere Prioritäten für die europäische Patentanmeldung in Anspruch genommen, so umfasst das Prioritätsrecht nur die Merkmale der europäischen Patentanmeldung, die in der Anmeldung oder den Anmeldungen enthalten sind, deren Priorität in Anspruch genommen worden ist."
De facto entsprechen die Absätze 2 bis 4 von Artikel 88 EPÜ den Artikeln 4 F und 4 H PVÜ, wenn auch mit der ausdrücklichen Maßgabe, dass für einen Patentanspruch mehrere Prioritäten in Anspruch genommen werden können (Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ).
5.1.2 Artikel 88 (3) EPÜ ist so auszulegen, dass das Prioritätsrecht auch in Fällen greift, in denen nur ein Teil der späteren Anmeldung (z. B. ein Teil des von einem Anspruch umfassten Gegenstands) die Priorität einer oder mehrerer Prioritätsanmeldungen genießt. Für die Merkmale, die sich unmittelbar und eindeutig aus einer oder mehreren Prioritätsanmeldungen ableiten lassen, kann eine Teilpriorität in Anspruch genommen werden; die restlichen in der späteren Anmeldung offenbarten Merkmale begründen wiederum selbst einen Prioritätsanspruch für eine spätere Anmeldung.
Der in Artikel 88 (3) EPÜ verwendete Begriff "Merkmal" (s. auch Artikel 4 F und 4 H PVÜ) ist nicht als einzelnes Kennzeichen zu verstehen, sondern als Gegenstand, wie er in einem Anspruch definiert bzw. als Ausführungsform oder Beispiel in der Beschreibung offenbart ist (s. G 2/98, a. a. O., Nrn. 4 und 6.2 der Begründung der Stellungnahme).
In Artikel 88 (3) EPÜ ist von mehreren Merkmalen die Rede, die in einem oder mehreren Prioritätsdokumenten "enthalten" (offenbart) sein können. Für jedes offenbarte "Merkmal" kann die Priorität des Prioritätsdokuments beansprucht werden, in dem es offenbart war. Laut Artikel 88 (3) EPÜ ist es nicht von Belang, ob alle von einem Anspruch umfassten Merkmale in ein und demselben Prioritätsdokument oder in mehreren Prioritätsdokumenten offenbart sind; auf den zweiten Fall verweist der Ausdruck "mehrere Prioritäten" in Artikel 88 (2) Satz 1 EPÜ.
5.1.3 Ist ein Anspruch in der späteren Anmeldung breiter als ein im Prioritätsdokument offenbartes Merkmal, dann kann für dieses Merkmal eine Priorität in Anspruch genommen werden, nicht aber für alle anderen vom Anspruch bzw. von den Ansprüchen umfassten Ausführungsformen. Dieser Grundsatz gilt für jedes einzelne Merkmal, das in irgendeinem Prioritätsdokument offenbart ist. Dabei ist unerheblich, ob die Teilpriorität für ein einziges in einem Prioritätsdokument offenbartes Merkmal beansprucht wird, für mehrere in einem Prioritätsdokument offenbarte Merkmale (der erste in Art. 88 (3) EPÜ angesprochene Fall), für mehrere in mehr als einem Prioritätsdokument offenbarte Merkmale (der zweite in Art. 88 (3) EPÜ angesprochene Fall) oder für mehrere in mehreren Prioritätsdokumenten offenbarte Merkmale (in Art. 88 (2) Satz 2 EPÜ angesprochener Fall). Es spielt auch keine Rolle, ob ein Anspruch, für den eine Teilpriorität beansprucht wird, nur ein in einem Prioritätsdokument offenbartes Merkmal umfasst oder mehrere in einem oder mehreren Prioritätsdokumenten offenbarte Merkmale. Der Fall, dass ein Anspruch in mehreren Prioritätsdokumenten offenbarte Merkmale umfasst, wird in Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ konkret genannt.
Allein in Anbetracht des Wortlauts von Artikel 88 (2) und (3) EPÜ ist das Argument nicht haltbar, dass das Konzept der Teilpriorität im europäischen Patentsystem nicht vorkomme.
5.2 Die Materialien zum EPÜ, so auch das Memorandum, bei dem davon auszugehen ist, dass es die zugrunde liegende Absicht des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt (G 2/98, Nr. 6.4 der Begründung der Stellungnahme), lassen eine Bestätigung dieser Auslegung zu.
5.2.1 Vorbereitende Arbeiten zum EPÜ 1973 – FICPI-Memorandum C (M/48/I)
Was die Inanspruchnahme mehrerer Prioritäten für ein und denselben Anspruch betrifft, wird im Memorandum eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Anspruchsgattungen getroffen:
- Gattung "A+B"-Anspruch ("UND"-Anspruch, Anspruch zu eng, um durch die Offenbarung des ersten Prioritätsbelegs gestützt zu sein) und
- Gattung "A oder B"-Anspruch ("ODER"-Anspruch, Anspruch zu weit, um durch die Offenbarung des ersten Prioritätsbelegs gestützt zu sein).
In Bezug auf Fälle mit einem "UND"-Anspruch heißt es im Memorandum, dass "beim Vorliegen eines ersten Prioritätsbeleges mit der Offenbarung eines Kennzeichens A und eines zweiten Prioritätsbeleges, der das Kennzeichen B in Anwendung zusammen mit A offenbart, einem auf A und B gerichteten Anspruch eine Teilpriorität aus dem ersten Prioritätsdatum nicht zukommen kann, weil die Erfindung A+B nur zum Zeitpunkt des zweites Prioritätsbeleges geoffenbart wurde."
In Bezug auf Fälle mit einem "ODER"-Anspruch, das Thema dieser Vorlagefrage, heißt es im Memorandum: "Wenn ein erster Prioritätsbeleg ein Kennzeichen A offenbart und ein zweiter Prioritätsbeleg ein Merkmal B, in Anwendung als eine Alternative zu A, dann wird ein Anspruch der Anmeldung, der auf A oder B abgestellt ist, tatsächlich aus zwei verschiedenen Teilen A und B bestehen, wobei jeder dieser Teile in sich vollständig ist; es scheint nun kein Grund vorzuliegen, warum es nicht möglich sein sollte, die erste Priorität für den Teil A des Anspruches und die zweite Priorität für den Teil B des Anspruches zu beanspruchen." In diesem Zusammenhang wird im Memorandum außerdem Folgendes betont: "Es ist selbstverständlich bedeutungslos, ob das Wort "oder" tatsächlich in dem Anspruch aufscheint, oder bei Verwendung eines Hauptanspruchs mit/inbegriffen ist, oder irgendwie anders."
Zur Illustration enthält das Memorandum Beispiele für Fälle von "ODER"-Ansprüchen, in denen es erstrebenswert wäre, für ein und denselben Anspruch mehrere Prioritäten in Anspruch nehmen zu können:
a) Erweiterung chemischer Formeln,
b) Erweiterung eines Bereichs numerischer Werte (Temperatur, Druck, Konzentration usw.),
c) Erweiterung des Anwendungsgebiets.
Einem solchen "ODER"-Anspruch stünde dann
- der erste Prioritätstag insoweit zu, als der Anspruch den im ersten Prioritätsbeleg offenbarten, eng definierten Gegenstand umfasst, und
- der zweite Prioritätstag für seinen restlichen Schutzumfang zu.
Bezüglich der Teilpriorität wird im Memorandum auf Folgendes verwiesen:
- "Die Beanspruchung von Teilpriorität sollte natürlich von denselben Grundsätzen beherrscht sein, wie diese oben für die Beanspruchung von mehrfachen Prioritäten erklärt wurden", und
- "es würde aber passen, eine Teilpriorität in Situationen gemäß der "ODER"-Situation bei "mehrfachen Prioritäten" zu beanspruchen, wobei die Europäische Patentanmeldung selbst den zweiten Prioritätsbeleg abgeben würde."
Im Memorandum werden auch Vorteile der Gewährung von Mehrfach- und Teilprioritäten aufgeführt, so die Vermeidung eines Überhandnehmens von Ansprüchen und möglicher Nachteile in den nationalen Verfahren nach der Patenterteilung.
Auf der letzten Seite des Memorandums wird klargestellt, dass die Anerkennung von Mehrfach- und Teilprioritäten nicht dasselbe wie die Zulassung geänderter Ansprüche ist, von denen nach der Änderung jeder nur eine Priorität beansprucht. Wenn für jeden einzelnen Anspruch nur eine Priorität in Anspruch genommen würde, würde sich die Frage der Teilpriorität nicht ergeben. Die Änderung eines Anspruchssatzes dahin gehend, dass ein ursprünglich eingereichter Anspruch unterteilt wird, um Teilprioritäten zu ermöglichen, könnte in vielen Fällen nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässig sein.
5.2.2 Die Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973 (M/PR/I, "Artikel 86 (88) Inanspruchnahme der Priorität", Nrn. 308 bis 317) deuten darauf hin, dass das Memorandum ein wichtiger Bestandteil des Entstehungsprozesses der letztlich beschlossenen EPÜ-Bestimmung war, wonach für ein und denselben Anspruch mehrere Prioritäten beansprucht werden können.
Somit steht die in den Nummern 5.1.1 bis 5.1.3 dargelegte Auslegung mit dem Memorandum in Einklang.
5.2.3 Diese Auslegung wird auch durch die Pariser Verbandsübereinkunft bestätigt.
Das EPÜ stellt laut seiner Präambel und der ständigen Rechtsprechung ein Sonderabkommen im Sinne der Pariser Verbandsübereinkunft dar. Es liegt somit auf der Hand, dass die Artikel 87 bis 89 EPÜ, die eine vollständige und eigenständige Regelung des Rechts bilden, das bei der Beanspruchung von Prioritäten für europäische Patentanmeldungen anzuwenden ist (vgl. J 15/80, a. a. O.), den in der Pariser Verbandsübereinkunft festgelegten Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen sollen (vgl. T 301/87, ABl. EPA 1990, 335, Nr. 7.5 der Entscheidungsgründe).
Laut Artikel 4 F PVÜ darf eine Priorität nicht deswegen verweigert werden, weil der Anmelder mehrere Prioritäten beansprucht oder weil eine Anmeldung, für die eine oder mehrere Prioritäten beansprucht werden, ein oder mehrere Merkmale [Englisch: elements; Französisch: éléments] enthält, die in der oder den Anmeldungen, deren Priorität beansprucht worden ist, nicht enthalten waren, sofern in beiden Fällen Erfindungseinheit im Sinne des Landesgesetzes vorliegt. Hinsichtlich der Merkmale, die in der oder den Prioritätsanmeldungen nicht enthalten sind, "lässt die jüngere Anmeldung ein Prioritätsrecht unter den allgemeinen Bedingungen entstehen" (Art. 4 F Satz 2 PVÜ).
Der zweite in dieser Vorschrift genannte Grund betrifft insbesondere die Möglichkeit der Teilpriorität und wurde 1958 aufgenommen, um auf den häufig auftretenden Fall einzugehen, dass die Erfindung nach der Erstanmeldung und innerhalb der 12-monatigen Prioritätsfrist weiterentwickelt wird (vgl. Bodenhausen, a. a. O., S. 44, Bemerkung d).
5.3 Folglich enthält das EPÜ keine weiteren Erfordernisse für die Zuerkennung des Prioritätsrechts als das "derselben Erfindung", ob es sich nun um eine einfache, eine Mehrfach- oder eine Teilpriorität handelt; Letztere wird als Untergruppe der Mehrfachprioritäten angesehen.
Daher kann die in G 2/98 (a. a. O., Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme, letzter Satz) festgelegte Bedingung nicht als weitere Beschränkung des Prioritätsrechts ausgelegt werden.
6. Beurteilung des Erfordernisses "derselben Erfindung"
6.1 Die Grundlage für die Anerkennung einer Priorität ist in Artikel 88 (4) EPÜ zu finden, der Folgendes vorsieht: "Sind bestimmte Merkmale der Erfindung, für die die Priorität in Anspruch genommen wird, nicht in den in der früheren Anmeldung aufgestellten Patentansprüchen enthalten, so reicht es für die Gewährung der Priorität aus, dass die Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen der früheren Anmeldung diese Merkmale deutlich offenbart."
Artikel 4 H PVÜ hat im Wesentlichen denselben Wortlaut: "Die Priorität kann nicht deshalb verweigert werden, weil bestimmte Merkmale der Erfindung, für welche die Priorität beansprucht wird, nicht in den in der Patentanmeldung des Ursprungslandes aufgestellten Patentansprüchen enthalten sind, sofern nur die Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen diese Merkmale deutlich offenbart."
6.2 In G 2/98 definierte die Große Beschwerdekammer auf einer allgemeinen Ebene, wie der Begriff "derselben Erfindung" zu verstehen ist. Ihre Schlussfolgerung lautet wie folgt:
"Das in Artikel 87 (1) EPÜ für die Inanspruchnahme einer Priorität genannte Erfordernis "derselben Erfindung" bedeutet, dass die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung gemäß Artikel 88 EPÜ nur dann anzuerkennen ist, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann."
Somit wählte die Große Beschwerdekammer einen restriktiven Ansatz für die Definition des Begriffs "derselben Erfindung", um die einschlägige Rechtsprechung zu vereinheitlichen (Nr. 5 der Begründung der Stellungnahme) und die Kohärenz zwischen grundlegenden Elementen des Patentrechts zu wahren, und brachte die Art und Weise der Beurteilung der Priorität mit dem Ansatz für die Beurteilung in Einklang, ob die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und die Erfordernisse der Neuheit erfüllt sind.
Dieses Vorgehen der Großen Beschwerdekammer stimmt auch mit ihrer späteren Entscheidung G 1/03 überein, wo sie unter Nummer 4 der Entscheidungsgründe die Notwendigkeit eines einheitlichen Ansatzes unterstreicht und ausführt, "dass der Umfang des Prioritätsrechts sich danach bestimmt und zugleich auch darauf beschränkt, was in der früheren Anmeldung offenbart ist. Zur Vermeidung von Widersprüchen ist die Offenbarung als Grundlage für das Prioritätsrecht nach Artikel 87 (1) EPÜ genauso zu interpretieren wie als Grundlage für Änderungen in der Anmeldung nach Artikel 123 (2) EPÜ." Auch in ihrer jüngeren Entscheidung G 2/10 (a. a. O., Nr. 4.6 der Entscheidungsgründe) verfolgte die Große Beschwerdekammer diesen Ansatz. So hat sie die Rechtsprechung konsolidiert, um ein kohärentes System zu schaffen.
6.3 Die Feststellung der Großen Beschwerdekammer in G 2/98 (a. a. O., Nr. 6.7 der Begründung der Stellungnahme) stand im Zusammenhang mit der Thematik mehrerer Prioritäten für ein und denselben Anspruch. Die jetzige Vorlage betrifft aber die Frage der Teilpriorität, wobei der Begriff "Teilpriorität" so zu verstehen ist, dass er sich auf den Fall bezieht, in dem nur einem Teil des von einem generischen "ODER"-Anspruch umfassten Gegenstands der Prioritätstag einer früheren Anmeldung zusteht.
6.4 Bei der Prüfung, ob einem Gegenstand innerhalb eines generischen "ODER"-Anspruchs eine Teilpriorität zukommt, ist zunächst der im Prioritätsdokument offenbarte relevante Gegenstand zu bestimmen, d. h. der in Bezug auf den im Prioritätsintervall offenbarten Stand der Technik relevante Gegenstand. Dafür werden der in der Schlussfolgerung der Stellungnahme G 2/98 formulierte Offenbarungstest sowie die vom Anmelder bzw. Patentinhaber zur Stützung seines Prioritätsanspruchs vorgebrachten Erläuterungen herangezogen, um festzustellen, was der Fachmann dem Prioritätsdokument hätte entnehmen können. Im nächsten Schritt wird geprüft, ob dieser Gegenstand von dem Anspruch der Anmeldung bzw. des Patents umfasst wird, für den die Priorität in Anspruch genommen wird. Lautet die Antwort ja, wird der Anspruch de facto konzeptionell in zwei Teile geteilt: der erste Teil entspricht der Erfindung, die im Prioritätsdokument unmittelbar und eindeutig offenbart worden ist, der zweite dem verbleibenden Teil des späteren generischen "ODER"-Anspruchs, dem diese Priorität nicht zusteht, der aber selbst ein Prioritätsrecht nach Art. 88 (3) EPÜ begründet.
6.5 Dies entspricht logisch und exakt auch dem im Memorandum beschriebenen System (siehe oben Nr. 5.2): "Wenn ein erster Prioritätsbeleg ein Kennzeichen A offenbart und ein zweiter Prioritätsbeleg ein Merkmal B, in Anwendung als eine Alternative zu A, dann wird ein Anspruch der Anmeldung, der auf A oder B gerichtet ist, tatsächlich aus zwei verschiedenen Teilen A und B bestehen, wobei jeder dieser Teile in sich vollständig ist […]", weiter heißt es dort: "[…] es würde aber passen, eine Teilpriorität in Situationen gemäß der "ODER"-Situation bei "mehrfachen Prioritäten" zu beanspruchen, wobei die Europäische Patentanmeldung selbst den zweiten Prioritätsbeleg abgeben würde."
6.6 Die Aufgabe, die relevante Offenbarung des Prioritätsdokuments als Ganzes zu bestimmen sowie zu prüfen, ob der entsprechende Gegenstand vom Patentanspruch in der späteren Anmeldung umfasst wird, ist übliche Praxis im EPA und bei den Nutzern des europäischen Patentsystems und dürfte als solche keine zusätzliche Schwierigkeit darstellen. Entgegen den Behauptungen der Beschwerdegegnerin und einiger Amicus-curiae-Schriftsätze schafft diese Aufgabe auch keine Rechtsunsicherheit für Dritte. Obwohl sie eine anspruchsvolle geistige Tätigkeit sein kann, zeigen die Entscheidungen in den Fällen T 665/00, T 135/01, T 571/10 und T 1222/11, dass sie ohne zusätzliche Tests oder Schritte durchgeführt werden kann.
6.7 Aus dieser Analyse ergibt sich, dass es für die Beurteilung des Rechts auf Teilpriorität keiner zusätzlichen Erfordernisse bedarf.
7. Schlussfolgerung
Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Frage 1 zu verneinen ist.
Somit muss auf die Fragen 2, 3, 4 und 5 nicht eingegangen werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden, dass die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen wie folgt zu beantworten sind:
Das Recht auf Teilpriorität für einen Anspruch, der aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer "ODER"-Anspruch), kann nach dem EPÜ nicht verweigert werden, sofern diese alternativen Gegenstände im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit –, eindeutig und ausführbar offenbart sind. Andere materiellrechtliche Bedingungen oder Einschränkungen finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung.