4.5. Kriterien für die Ermessensausübung
Die Zulassung von verspätet eingereichten Unterlagen liegt im Ermessen der Einspruchsabteilung (Art. 114 (2) EPÜ; s. oben Kapitel IV.C.4.1.). Dazu muss sie nach ständiger Rechtsprechung die Relevanz prüfen. Verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel und diesbezügliche Argumente sollten von der Einspruchsabteilung nur in Ausnahmefällen zum Verfahren zugelassen werden, wenn prima facie der Verdacht naheliegt, dass solche verspätet eingereichten Unterlagen der Aufrechterhaltung des strittigen europäischen Patents entgegenstehen (s. insbes. T 1002/92, ABl. 1995, 605; T 1643/11, T 2443/12 und in diesem Kapitel IV.C.4.5.3 "Prima-facie-Relevanz").
Zur Frage, ob und inwieweit weitere Kriterien von der Einspruchsabteilung berücksichtigt werden können oder müssen mit der Folge dass unter bestimmten Voraussetzungen auch prima facie relevante Dokumente nicht zugelassen werden, haben die Kammern verschiedene Ansätze für das Einspruchsverfahren entwickelt.
Einer dieser Ansätze besagt, dass der Grundsatz der Ermittlung von Amts wegen (Art. 114 (1) EPÜ) Vorrang hat vor der dem EPA eingeräumten Befugnis, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel unberücksichtigt zu lassen. Dies ergibt sich aus der Verpflichtung des EPA gegenüber der Öffentlichkeit, keine Patente zu erteilen oder aufrechtzuerhalten, von denen es überzeugt ist, dass sie rechtlich keinen Bestand haben (T 156/84, ABl. 1988, 372; T 2542/10; T 1272/12). Wichtigstes Kriterium bei der Entscheidung über die Zulässigkeit verspätet eingereichter Unterlagen und Beweismittel ist demnach deren Relevanz, d. h. ob sie für den Ausgang des Falles entscheidend (relevant) sind (s. T 258/84, ABl. 1987, 119; T 892/98, T 605/99, T 572/14). In einigen Entscheidungen wurde die Relevanz gegenüber anderen, bereits in das Verfahren eingeführten Dokumenten beurteilt (z. B. T 932/99, T 482/01, T 927/04; s. jedoch T 1652/08 und T 66/14, in denen diese Definition verworfen wurde). Ist das Dokument relevant, so ist es in das Verfahren einzubeziehen und zu berücksichtigen (T 164/89, T 1016/93).
Zudem befand die Kammer in der grundlegenden Entscheidung T 1002/92 (ABl. 1995, 605), dass die Grundsätze, die die Große Beschwerdekammer in G 9/91 und G 10/91 (ABl. 1993, 408 und 420) für die Zulässigkeit neuer Einspruchsgründe aufgestellt hat (s. vorstehendes Kapitel IV.C.3.), auch auf verspätet vorgebrachte neue "Tatsachen und Beweismittel" zur Stützung schon in der Einspruchserklärung angegebener Einspruchsgründe allgemein anwendbar sind. Dementsprechend sollten im Verfahren vor den Einspruchsabteilungen verspätet vorgebrachte Tatsachen, Beweismittel und diesbezügliche Argumente, die über die gemäß R. 55 c) EPÜ 1973 in der Einspruchsschrift angegebenen "Tatsachen und Beweismittel" hinausgehen, nur in Ausnahmefällen zum Verfahren zugelassen werden, wenn prima facie triftige Gründe die Vermutung nahelegen, dass die verspätet eingereichten Unterlagen der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen würden. Nach Meinung der Kammer ist im Verfahren vor den Einspruchsabteilungen die Relevanz verspätet vorgebrachter neuer Tatsachen, Beweismittel und Argumente für deren ausnahmsweise Zulassung ausschlaggebend. Zu den restriktiveren und strengeren Kriterien im Verfahren vor den Beschwerdekammern s. nachstehende Kapitel V.A.4. und insbesondere Kapitel V.A.4.4.6 d) und V.A.4.4.6 e), V.A.4.5.8 i) und V.A.4.5.11 b)
T 1002/92 wurde in vielen Entscheidungen bestätigt (zu verspätetem Vorbringen im Einspruchsverfahren s. z. B. T 481/99, T 481/00, T 1643/11, T 1883/12, T 2438/13, T 710/15). In T 2049/16 bekräftigte die Kammer, dass die Notwendigkeit, die Aufrechterhaltung ungültiger europäischer Patente zu vermeiden, im erstinstanzlichen Verfahren die Zulassung von Dokumenten rechtfertigt, die nach Auffassung der Einspruchsabteilung prima facie relevant sind.
Schon in der früheren Rechtsprechung wurde jedoch in vielen Entscheidungen die Relevanz des verspäteten Vorbringens nicht mehr als das einzig entscheidende Kriterium für dessen Berücksichtigung betrachtet. Als entscheidend wurden auch andere Kriterien angesehen, wie der Grad der Verspätung, Gründe für das verspätete Vorbringen, ob das verspätete Vorbringen als ein Verfahrensmissbrauch zu werten war oder ob die Zulassung des verspäteten Vorbringens zu einer übermäßigen Verzögerung des Verfahrens führen könnte (s. T 534/89, ABl. 1994, 464; T 17/91, T 951/91, ABl. 1995, 202; T 1019/92, T 481/99, T 1182/01, T 927/04, T 1029/05, T 1485/08, T 2542/10, T 1272/12, T 1883/12, T 1271/13).
Ausführungen zur Ausübung des Ermessens durch Einspruchsabteilungen sind in diesem Kapitel unter IV.C.4.5.3 bis 4.5.5 und zu "Kriterien für die Berücksichtigung spät eingereichter Tatsachen und Beweismittel" im Beschwerdeverfahren in Kapitel V.A.4. und insbesondere in Kapitel V.A.4.1.2, V.A.4.4.6, V.A.4.5.7, V.A.4.5.8 and V.A.4.5.11 zu finden.