BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.2 vom 2. Februar 1993 - T 534/89 - 3.2.2
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | G. S. A. Szabo |
| E. M. C. Holtz |
| J. B. F. Kollar |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: Dentsply Research and Development Corporation
Einsprechender/Beschwerdeführer: EMS S.A. Electro Medical Systems
Stichwort: unzulässiges verspätetes Vorbringen/EMS
Regel: 55(c), 65 (1) EPÜ
Schlagwort: "verspätetes Vorbringen - Verfahrensmißbrauch" - "Ermessen nach Artikel 114 (2) EPÜ" - "Nichtberücksichtigung eines verspäteten Vorbringens ungeachtet seiner Relevanz"
Leitsätze
I. Während bei Fahrlässigkeit oder Unkenntnis eine Kostenverteilung zwischen den Parteien angemessen sein kann, ist bei einem durch Manipulation absichtlich verspäteten Vorbringen zu prüfen, ob das Ermessen nach Artikel 114 (2) EPÜ zuungunsten der Partei ausgeübt werden sollte, die bösgläubig gehandelt hat (Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe).
II. Liegt offensichtlich ein Verfahrensmißbrauch vor, weil eine Partei eine Tatsache absichtlich nicht erwähnt hat, obwohl sie im Besitz des entsprechenden Beweismaterials war, so verstieße es gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn Artikel 114 (2) EPÜ zugunsten dieser Partei angewendet würde. Daher hält es die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 EPÜ für gerechtfertigt, den Einwand der offenkundigen Vorbenutzung ungeachtet seiner möglichen Relevanz nicht zuzulassen (Nr. 2.7 der Entscheidungsgründe).
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 29. Juni 1989, das europäische Patent Nr. 0 119 021 in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten.
II. Am 10. August 1989 reichte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) unter Entrichtung der Beschwerdegebühr Beschwerde ein. Die Beschwerdebegründung wurde am 27. Oktober 1989 eingereicht.
III. Der Einwand der offenkundigen Vorbenutzung wurde erstmals in der Beschwerdebegründung unter Hinweis auf den freien Verkauf durch die Beschwerdeführerin selbst vorgebracht. Außer auf diese Vorbenutzung bezieht sich die Beschwerdebegründung nur ganz allgemein auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin im Einspruchsverfahren. Ein Bescheid mit einer vorläufigen Stellungnahme der Kammer erging zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung, die auf den 2. Februar 1993 anberaumt worden war.
IV. Der Vertreter der Beschwerdeführerin führte in der mündlichen Verhandlung aus, daß er von der Vorbenutzung erst etwa einen Monat vor Ablauf der Einspruchsfrist erfahren habe (die Beschwerdeführerin hatte Niederlassungen in mehreren Ländern). Deshalb sei beschlossen worden, dieses Argument im Einspruchsverfahren nicht vorzubringen. Nach der angefochtenen Entscheidung sei man jedoch - wegen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Erfindung - der Auffassung gewesen, daß die Vorbenutzung bei der Definition des einschlägigen Standes der Technik und damit auch der Erfindung gemäß des "whole contents approach" hilfreich sein könnte.
V. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) machte geltend, daß die Frage der Vorbenutzung nicht zugelassen werden dürfe, da es keinen stichhaltigen Grund dafür gebe, daß sie nicht schon zuvor im Verfahren angeschnitten worden sei. Außerdem sei nach Artikel 108 EPÜ auch die übrige Beschwerdebegründung unzureichend, weil darin weder ausgeführt werde, in welcher Hinsicht die angefochtene Entscheidung fehlerhaft sei, noch auf die Argumente eingegangen werde, die die Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren vorbringen wolle.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, daß die Beschwerde als unzulässig verworfen wird.
Entscheidungsgründe
1. Hier ist die Grundsatzfrage zu klären, ob die Beschwerde ausreichend begründet worden ist, wie in Artikel 108 Satz 3 EPÜ gefordert. Im vorliegenden Fall geht es um zwei verschiedene Arten der Zulässigkeit, und zwar zunächst einmal um die Zulässigkeit des verspätet vorgebrachten Einwands der Vorbenutzung. Erweist er sich als unzulässig, so könnte sich angesichts des möglicherweise unzureichenden Inhalts der Beschwerdeschrift auch die Frage nach der Zulässigkeit der Beschwerde als solcher stellen.
2. Zulässigkeit des Einwands der Vorbenutzung
2.1 Aus der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern in bezug auf die Zulassung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel (Art. 114 EPÜ) ergeben sich die nachstehend aufgeführten Grundsätze.
Mit der Regel 55 c) EPÜ soll sichergestellt werden, daß das Vorbringen des Einsprechenden dem Patentinhaber und der Einspruchsabteilung (bzw. der Beschwerdekammer) auch ohne Zuhilfenahme der Akte objektiv verständlich ist (T 222/85, ABl. EPA 1988, 128). Ein hochrelevantes Dokument kann in Ausübung des Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ jedoch auch noch später im Verfahren zugelassen werden (T 142/84, ABl. EPA 1987, 112, in der Folge z. B. bestätigt durch T 271/84, ABl. EPA 1987, 405 und T 416/87, ABl. EPA 1990, 415; s. auch "Allgemeine Grundsätze für das Einspruchsverfahren im EPA", ABl. EPA 1989, 417). Eine Partei, die ein Argument verspätet vorbringt, muß darlegen, weshalb sie es nicht schon früher vorgebracht hat (T 156/84, ABl. EPA 1988, 372, wo auch festgestellt wird, daß in Artikel 114 EPÜ Absatz 1 deswegen Vorrang vor Absatz 2 hat, weil das EPA verpflichtet ist, keine Patente zu erteilen oder aufrechtzuerhalten, von denen es überzeugt ist, daß sie rechtlich keinen Bestand haben).
Auch in der Entscheidung T 416/87 ging es um ein unentschuldbares Versäumnis, eine Sache im frühest möglichen Verfahrensstadium vollständig darzulegen, und damit um einen offensichtlichen Verfahrensmißbrauch, doch ordnete die Kammer eine Kostenverteilung an, weil sie das verspätet vorgelegte Dokument als nächstkommenden Stand der Technik und deshalb als zulässig ansah. Von diesem ausgleichenden "Rechtsbehelf" der Kostenverteilung wurde auch in der Sache T 611/90 Gebrauch gemacht (vgl. ABl. EPA 1993, 50, Nr. 5).
2.2 Aus dieser Rechtsprechung folgt, daß ein verspätetes Vorbringen zur Frage der Neuheit oder der erfinderischen Tätigkeit in der Regel nach Artikel 114 (2) EPÜ zugelassen wird, sofern es entscheidungserheblich sein kann. Somit würde eine behauptete Vorbenutzung nur dann nach diesem "Grundsatz der Relevanz" als Einwand zugelassen, wenn sie einen Stand der Technik darstellt, der unter den beanspruchten Gegenstand fällt oder ihm näher kommt als die in der Sache bereits vorliegenden Unterlagen, und deshalb die Entscheidung in eine andere Richtung lenken könnte.
In keiner früheren Entscheidung wurde jedoch auf die Möglichkeit eingegangen, Artikel 114 (2) EPÜ unabhängig von Artikel 114 (1) EPÜ anzuwenden. Daß die Beschwerdekammern verspätetes Vorbringen nicht nach Artikel 114 (2) EPÜ außer acht lassen wollen, ohne es zunächst einmal auf seine Erheblichkeit hin geprüft zu haben, mag daher rühren, daß in der Sache G 1/84 (ABl. EPA 1985, 299, Nr. 3) festgestellt wurde, die Öffentlichkeit habe außer bei offensichtlichen Verfahrensmißbräuchen ein überaus starkes Interesse daran, daß jeder Einspruch sachlich geprüft werde.
2.3 Nach Auffassung der Kammer kann zwar bei Fahrlässigkeit oder Unkenntnis eine Kostenverteilung zwischen den Parteien angemessen sein; bei einem durch Manipulation absichtlich verspäteten Vorbringen ist aber zu prüfen, ob das Ermessen nach Artikel 114 (2) EPÜ zuungunsten der Partei ausgeübt werden sollte, die bösgläubig gehandelt hat.
2.4 Unter den besonderen Umständen der vorliegenden Sache ist zunächst zu untersuchen, ob die Beschwerdeführerin triftige Gründe für die Verzögerung angegeben hat. Wenn nicht, muß festgestellt werden, ob das Fehlen eines triftigen Entschuldigungsgrundes einen Verfahrensmißbrauch darstellt. Ist dies der Fall, so muß schließlich entschieden werden, ob die Umstände so schwerwiegend sind, daß es gerechtfertigt ist, das verspätet vorgelegte Material unberücksichtigt zu lassen.
2.5 Die Beschwerdeführerin hat offen zugegeben, daß sie von der Vorbenutzung schon vor Ablauf der Einspruchsfrist Kenntnis erlangt und diesen Sachverhalt bewußt nicht im Einspruchsverfahren zur Sprache gebracht hatte, und zwar auch deshalb, weil ihr die Zeit zur Beschaffung der notwendigen Beweismittel zu kurz erschienen war.
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern müssen die Beweismittel nicht gleichzeitig mit der Einspruchsschrift vorgelegt werden, damit ein darin erhobener Einwand rechtsgültig ist (s. u. a. J 22/86, ABl. EPA 1987, 280). In der Regel reicht es aus, sie erst dann vorzulegen, wenn sie tatsächlich verfügbar sind. In diesem Zusammenhang muß zwischen dem Vorbringen des Arguments an sich, das in Artikel 99 in Verbindung mit Regel 55 c) EPÜ gefordert wird, und der Vorlage von Beweismitteln zu seiner Untermauerung unterschieden werden, die nach Artikel 99 bzw. 108 EPÜ nicht erforderlich ist (vgl. T 222/85, Nr. 5). Damit hätte es der Beschwerdeführerin in der vorliegenden Sache freigestanden, die Vorbenutzung als eines der Argumente anzuführen, die gegen die Neuheit sprechen, und dabei anzugeben, daß sie die entsprechenden Beweismittel rechtzeitig vorlegen werde.
Die Tatsache, daß hinsichtlich der Art der Erfindung unter Umständen Unsicherheit bestand, ist keine Entschuldigung, weil jeder Einwand einer Vorbenutzung notwendigerweise sachlich geprüft werden muß (vgl. z. B. T 328/87, ABl. EPA 1992, 701), und zwar unabhängig davon, wann er erhoben wird. Das Argument, die Vorbenutzung sei erst später "benötigt" worden, um den Stand der Technik oder die Erfindung gemäß des "whole contents approach" abzugrenzen, würde, sofern es überhaupt sinnvoll ist, gleichermaßen für das Verfahren vor der ersten Instanz gelten. Jegliches vorsätzliche Zurückhalten von Informationen, die für den Bestand des Patents relevant sind, - die sogenannte "Salamitaktik" - verstößt nicht nur unmittelbar gegen das Interesse der Öffentlichkeit im allgemeinen, sondern könnte den Parteien auch als eine in Täuschungsabsicht getroffene geheime Absprache ausgelegt werden.
Die Beschwerdegegnerin wie auch das EPA und die Öffentlichkeit im allgemeinen sind bis zum Beschwerdeverfahren in Unkenntnis über den vollen Umfang der von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Einwände gelassen worden. Wie bereits im Bescheid der Kammer ausgeführt, ist es der Beschwerdegegnerin nach dieser mehrjährigen Verzögerung nicht mehr zuzumuten, nach Beweismitteln zu suchen, um die Behauptung zu widerlegen.
2.6 Wenn die Einsprechende einen Einwand wegen Vorbenutzung durch sie selbst erst nach Ablauf der Einspruchsfrist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ vorbringt, obgleich sie den Sachverhalt kannte und ihn ohne weiteres innerhalb dieser Frist hätte vorbringen können, so stellt dies einen Mißbrauch des Verfahrens dar.
2.7 Liegt offensichtlich ein Verfahrensmißbrauch vor, weil eine Partei eine Tatsache bewußt nicht erwähnt hat, obwohl sie im Besitz des entsprechenden Beweismaterials war, so verstieße es nach Ansicht der Kammer gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn Artikel 114 (2) EPÜ zugunsten dieser Partei angewendet würde. Daher hält es die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 EPÜ für gerechtfertigt, den Einwand der Vorbenutzung ungeachtet seiner möglichen Relevanz unberücksichtigt zu lassen.
2.8 Es ist immer wieder betont worden, daß das Europäische Patentamt im Interesse der Rechtssicherheit auf eine zügige Verfahrensabwicklung bedacht ist. Die Kammer stellt fest, daß die Parteien wissen müssen, welches Risiko sie eingehen, wenn sie gegen die Grundsätze verstoßen, die eine solche Verfahrensökonomie ermöglichen, und daß sie schwerer wiegende Folgen als eine Kostenverteilung zu gewärtigen haben, die zumindest für einige wirtschaftlich starke Verfahrensbeteiligte kein wirksames Abschreckungsmittel zu sein scheint.
2.9 Da der Einwand der Vorbenutzung für unzulässig befunden worden ist, müssen die darauf bezogenen Teile der Beschwerdebegründung außer Betracht bleiben.
3. Ausreichende Begründung
3.1 Das in Artikel 108 EPÜ enthaltene Erfordernis der Begründung dient mehreren Zwecken. Erstens wird im Beschwerdeverfahren im Grunde nur die angefochtene Entscheidung überprüft, nicht aber die Anmeldung bzw. das Patent erneut geprüft. Deshalb muß in der Beschwerdeschrift angegeben werden, aus welchen rechtlichen oder tatsächlichen Gründen die angefochtene Entscheidung aufgehoben und der Beschwerde stattgegeben werden soll. Zweitens muß die Beschwerdegegnerin durch die Begründung in die Lage versetzt werden, angemessen auf die Beschwerde zu reagieren, während das EPA das Verfahren ordnungsgemäß abwickeln können muß. Drittens liegt es im Interesse der Öffentlichkeit, daß eine erstinstanzliche Entscheidung nur innerhalb einer gesetzlich festgelegten Frist angefochten werden kann. Da eine Beschwerde gemäß dem EPÜ ein Vorbringen in zwei Verfahrensschritten voraussetzt, wobei für jeden eine gesonderte Frist gesetzt wird, bedingt das Interesse der Öffentlichkeit die Vorlage einer vollständigen Begründung innerhalb dieser Frist (vgl. T 220/83, ABl. EPA 1986, 249; T 213/85, ABl. EPA 1987, 482; J 22/86, ABl. EPA 1987, 280 und T 145/88, ABl. EPA 1991, 251).
3.2 Die Beschwerdeführerin hat nur allgemein auf ihr Vorbringen vor der Einspruchsabteilung verwiesen, ohne im einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden sollte. Wie bereits in der (unveröffentlichten) Entscheidung T 432/88 vom 15. Juni 1989 ausgeführt, sind die Kammer und der Beschwerdegegner bei einem so unbestimmten Verweis auf Mutmaßungen darüber angewiesen, in welcher Hinsicht der Beschwerdeführer die angefochtene Entscheidung für mangelhaft hält. Genau das soll aber durch das Erfordernis der Beschwerdebegründung verhindert werden. Sonst weiß der Beschwerdegegner nämlich nicht, wie er seine Sache vorbereiten soll, und die Kammer kann das Beschwerdeverfahren nicht effizient leiten.
In der vorliegenden Sache besteht das frühere Vorbringen, auf das die Beschwerdeführerin verweist, aus recht umfangreichen und komplizierten technischen Ausführungen, die sie in ihrer am 5. Januar 1988 eingereichten Einspruchsschrift gemacht hat.
Es wäre deshalb weder möglich, die Beschwerde nur durch Lesen der Beschwerdebegründung und der angefochtenen Entscheidung zu verstehen, wie dies nach der Rechtsprechung des EPA gefordert wird, noch wäre es ohne weitere Prüfung der der Einspruchsabteilung vorgelegten und zu den Akten genommenen technischen Angaben möglich festzustellen, in welcher Hinsicht die Entscheidung angefochten wird.
3.3 Diese Kammer schließt sich deshalb der Feststellung in T 432/88 an, daß ein bloßer Verweis auf das Vorbringen im Einspruchsverfahren nicht die Vorschrift des Artikels 108 Satz 3 EPÜ erfüllt, zumindest dann nicht, wenn - wie in der vorliegenden Sache - umfangreiche Untersuchungen erforderlich wären, um den Inhalt der Beschwerde zu ermitteln.
4. Schlußfolgerungen
Da der Einwand der Vorbenutzung unzulässig ist und die übrigen Verweise in der Beschwerdebegründung unzulänglich sind, bleibt sowohl in der Beschwerdeschrift als auch in der Beschwerdebegründung nichts übrig, was einen Hinweis auf den Inhalt der Beschwerde liefern könnte. Deshalb muß die Beschwerde insgesamt gemäß Regel 65 (1) EPÜ als unzulässig verworfen werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird als unzulässig verworfen.