4.1.1 Frist von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses
In den meisten Fällen steht "das Hindernis" im Zusammenhang mit einem Fehler bei der Ausführung der Absicht des Beteiligten, die Frist einzuhalten (J 29/86, ABl. 1988, 84; zu anderen möglichen Hindernissen s. auch dieses Kapitel III.E.4.2. "Verhinderung an der Fristeinhaltung").
Das Hindernis fällt an dem Tag weg, an dem der für die Anmeldung zuständigen Person (d. h. dem Patentinhaber oder seinem zugelassenen Vertreter) zur Kenntnis gebracht wird, dass eine Frist nicht eingehalten worden ist (s. T 191/82 date: 1985-04-16, ABl. 1985, 189; T 287/84, ABl. 1985, 333; J 29/86, ABl. 1988, 84; J 27/88, J 27/90, ABl. 1993, 422).
(i) Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses
In J 1/20 legte die Juristische Beschwerdekammer ihre Auffassung dar, wonach zur korrekten Beurteilung der Zulässigkeit eines Wiedereinsetzungsantrags zunächst Folgendes festgestellt werden muss: (i) wer die für die Anmeldung verantwortliche Person war und (ii) wann diese Person tatsächlich von dem Hindernis erfuhr. Der Wegfall des Hindernisses ist ein Tatbestand, für den entscheidend ist, dass der verantwortlichen Person die Nichteinhaltung einer Frist tatsächlich zur Kenntnis gebracht wird, etwa durch den tatsächlichen Eingang einer Mitteilung nach R. 112 (1) EPÜ, nicht durch eine Rechtsfiktion der Kenntnisnahme, z. B. der Fiktion der Zustellung der Mitteilung nach R.126 (2) EPÜ. Das Hindernis fällt an dem Tag weg, an dem die für die Anmeldung bzw. das Patent verantwortliche Person (in der Regel der bevollmächtigte Vertreter) einen Irrtum bemerkt.
Früheren Entscheidungen zufolge ist entscheidend, wann die zuständige Person den Irrtum hätte bemerken müssen, wenn sie alle gebotene Sorgfalt beachtet hätte (s. u. a. J 27/88, J 5/94, J 24/97, T 315/90, T 840/94, J 27/01, T 1026/06, T 493/08, J 1/13, T 1588/15). In J 1/20 befand die Juristische Kammer, dass sich mit dieser Vorgehensweise der Tag des Wegfalls des Hindernisses nicht korrekt bestimmen lässt. In J 27/90 (ABl. 1993, 422) wies die Juristische Kammer darauf hin, dass der Wegfall des Hindernisses ein Tatbestand ist, der stets unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls ermittelt werden muss (s. auch J 7/82, ABl. 1982, 391; J 16/93; T 900/90; T 832/99; J 21/10; T 387/11; T 1588/15). Liegt ein Irrtum über Tatsachen vor, so fällt das Hindernis an dem Tag weg, an dem der für die Patentanmeldung Verantwortliche den Irrtum hätte bemerken müssen. Dies ist nicht zwangsläufig der Tag, an dem die Mitteilung nach R. 112(1) EPÜ (R. 69 (1) EPÜ 1973) eingeht (s. T 315/90, J 21/10). Wenn aber eine solche Mitteilung ordnungsgemäß zugestellt wurde, kann – sofern die Umstände nicht dagegen sprechen – davon ausgegangen werden, dass sie den Wegfall bewirkt hat (s. auch J 7/82, ABl. 1982, 391; J 29/86, ABl. 1988, 84; T 900/90; J 27/90; J 16/93; T 428/98, ABl. 2001, 494; T 832/99; J 11/03).
In T 261/07 hatte der Patentinhaber unter Verweis auf die Entscheidung T 949/94 vom 24. März 1995 date: 1995-03-24 geltend gemacht, dass er das Versehen erst erkannt habe, als sich herausstellte, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung tatsächlich eingegangen sei. Nach Auffassung der Kammer war das Hindernis aber bereits weggefallen, als der Patentinhaber bei der Akteneinsicht bemerkt habe, dass "etwas nicht stimme" (s. J 9/86, J 17/89 und T 191/82 date: 1985-04-16).
In T 198/16 stellte die Kammer fest, dass die Praxis, die Sorgfaltspflicht im Kontext des Wegfalls des Hindernisses mit einer Frist im Sinne von R. 136 (1) EPÜ anzuwenden, als Ausdehnung der Bedeutung der Sorgfaltspflicht aufgefasst werden könnte, weil dadurch der Umfang des maßgeblichen Kriteriums um die Funktion eines außergewöhnlichen vorläufigen Zulässigkeits-/Anwendbarkeitshindernisses erweitert wurde. Nach Auffassung der Kammer war diese Auslegung des "Wegfallkriteriums", die sich nicht auf den Gesetzestext stützen konnte, zweifelhaft. Die Kammer ließ die Frage der richtigen Auslegung offen.
(ii) Vermutung zum Tag des Wegfalls des Hindernisses
Wird eine Mitteilung über einen Rechtsverlust (R. 112 (1) EPÜ) zugestellt, so gibt es: (i) eine Vermutung, dass das Hindernis am Tag des Eingangs der Mitteilung wegfällt, und (ii) eine Verpflichtung des Empfängers, die Mitteilung nicht zu ignorieren, sondern zu handeln. Diese Vermutung ist jedoch in dem Sinne widerlegbar, dass sie nur gilt, wenn das Hindernis nicht aufgrund besonderer Umstände fortbesteht (J 1/20, T 1588/15). In J 29/86 (ABl. 1988, 84) nahm die Juristische Kammer wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls einen späteren Zeitpunkt an. In T 900/90 betonte die Kammer, dass in allen Fällen, in denen das Hindernis durch den Erhalt der Mitteilung nach R. 69 (1) EPÜ 1973 (R. 112 (1) EPÜ) als weggefallen gelten könne, eindeutig feststehen müsse, dass weder der Vertreter noch der Anmelder vor dem Erhalt dieser Mitteilung wusste, dass die Anmeldung als zurückgenommen galt. Weitere Fälle, in denen die Kammern einen vom Zugang der Mitteilung nach R. 69 (1) EPÜ 1973 (R. 112 (1) EPÜ) abweichenden Zeitpunkt bejaht haben, sind z. B. J 16/93, J 22/97, J 7/99, J 19/04, T 24/04 und T 170/04.
In T 1570/20 fiel das Hindernis an dem Tag weg, an dem der europäische zugelassene Vertreter von dem Rechtsverlust erfuhr, d. h. beim Eingang der Mitteilung über den Rechtsverlust. Der Wegfall des Hindernisses erforderte nicht, dass der zugelassene Vertreter Näheres über mögliche Gründe für den Rechtsverlust wusste, etwa ob die Nichtzahlung der Gebühren beabsichtigt war oder nicht. Vielmehr war ausreichend, dass der zugelassene Vertreter erfuhr, dass eine Frist - für die später Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt wurde – nicht eingehalten worden war, was bedeutete, dass niemand sich um die Zahlung der Gebühren gekümmert hatte.
In J 7/16 kam die Juristische Kammer zu dem Schluss, dass das Hindernis, das zur Versäumung der Zweimonatsfrist nach R. 136 (1) EPÜ geführt hatte, darin bestand, dass der frühere Vertreter aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war, im Verfahren angemessen zu handeln. Daher konnte als Tag des Wegfalls des Hindernisses nur der Tag gelten, an dem der Anmelder die Akte eingesehen und erkannt hat, dass sein früherer Vertreter nicht ordnungsgemäß gehandelt hatte.
In T 1547/20 begann die Zweimonatsfrist ab dem Tag zu laufen, an dem der Beschwerdeführer eine Mitteilung der Geschäftsstelle erhielt. Der Antrag auf Wiedereinsetzung ging bei der Kammer zwei Monate und zehn Tage nach Absendung der Mitteilung der Geschäftsstelle ein. Der Beschwerdeführer gab an, dass er den Wiedereinsetzungsantrag innerhalb der Frist nach R. 136 (1) EPÜ eingereicht habe, aber es gab keinen Nachweis über den Eingangstag der Mitteilung. Mangels Beweises, dass die Mitteilung tatsächlich innerhalb von neun Tagen nach Absendung eingegangen war, war die Kammer davon überzeugt, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung rechtzeitig eingereicht wurde.
(iii) Fristversäumung aufgrund eines Rechtsfehlers
In T 493/08 befand die Kammer, dass bei einer Fristversäumung aufgrund eines Rechtsfehlers das Hindernis, das zur Fristversäumung geführt hatte, an dem Tag wegfällt, an dem der Anmelder den Rechtsfehler tatsächlich erkannt hat (s. auch J 1/20). Die Kammer wies darauf hin, dass in T 1026/06 in deutlichem Gegensatz zu dieser Auffassung der Tag, an dem der Anmelder Nachforschungen hätte anstellen sollen, als Stichtag angesehen wurde, obwohl der Anmelder offensichtlich solche Nachforschungen wegen des als Rechtsfehler erachteten Sachverhalts nicht angestellt hat.