5.2. Prüfungsumfang bei Änderungen
Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents im Einspruchsverfahren sind auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ zu prüfen (Art. 101 (3) EPÜ). Werden an einem Patent Änderungen vorgenommen, so sind die Einspruchsabteilungen (ebenso wie die Beschwerdekammern) befugt, auf die dadurch entstehenden Gründe und Fragen einzugehen, auch wenn diese von einem Einsprechenden nicht gemäß R. 76 (2) c) EPÜ konkret vorgebracht wurden (T 227/88, ABl. 1990, 292; G 9/91, ABl. 1993, 408 und G 10/91, ABl. 1993, 420, jeweils Nr. 19 der Gründe; T 472/88; T 922/94; T 1437/15; s. auch T 459/09; s. auch Kapitel IV.C.5.2.2 unten; zum Umfang der Befugnis zur Prüfung geänderter Ansprüche auf ihre Vereinbarkeit mit Artikel 84 EPÜ s. G 3/14, ABl. 2015, A102 und Kapitel IV.C.5.2.2 unten).
Bei geänderten Ansprüchen, die im Einspruchsverfahren eingereicht werden, sei es nicht zu beanstanden, dass der Einsprechende neue Entgegenhaltungen und neue Argumente gegen die neuen Ansprüche vorbringe, die erstmals die erfinderische Tätigkeit infrage stellen (so T 623/93). Die Prüfung eines so begründeten neuen Vorbringens durch die Einspruchsabteilung stehe im Einklang mit G 9/91 (ABl. 1993, 408, Nr. 19 der Gründe).
In T 1437/15 rief die Kammer in Erinnerung, dass die Einspruchsgründe nach Art. 100 EPÜ nur die Aufrechterhaltung des erteilten Patents betreffen (Art. 101 (1) und (2) EPÜ). Hingegen muss ein im Einspruchsverfahren geändertes Patent unter Berücksichtigung dieser Änderungen den Erfordernissen des EPÜ genügen (Art. 101 (3) EPÜ), um in dieser Fassung aufrechterhalten werden zu können.
In T 693/98 befasste sich die Kammer mit der Frage, ob bei richtiger Auslegung des Art. 102 (3) EPÜ 1973 (Art. 101 (3) a) EPÜ) die Vornahme von Änderungen der Ansprüche im Einspruchsverfahren dem Einsprechenden die Möglichkeit eröffnet, einen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ gegen alle Änderungen der Ansprüche zu erheben, d. h. auch gegen diejenigen, die vor der Erteilung des Patents vorgenommen wurden, auch wenn ein solcher Einwand ursprünglich nicht als Einspruchsgrund genannt und begründet worden war. Unter Verweis auf G 10/91 (ABl. 1993, 420, Nr. 19 der Gründe) führte die Kammer aus, dass nur die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommenen Änderungen auf die Erfordernisse des EPÜ geprüft werden müssen, nicht jedoch die Änderungen vor der Erteilung (s. auch T 301/87, ABl. 1990, 335). Zitiert in T 2696/16.
Die Aufnahme eines bereits in den Ansprüchen und der Beschreibung der erteilten Fassung enthaltenen Merkmals in einen unabhängigen Anspruch kann nicht als Änderung gewertet werden, die es rechtfertigt, als neuen Einspruchsgrund Art. 100 b) EPÜ zuzulassen, wonach das europäische Patent als Ganzes die Erfindung so deutlich und vollständig offenbaren muss, dass ein Fachmann sie ausführen kann (T 1053/05; s. auch T 739/08 und T 565/13).
In T 2155/17 stellte die Kammer fest, dass der betreffende neue Einwand wegen Erweiterung des Gegenstands sich auf die Änderung und nicht auf die Kombination von Merkmalen in den erteilten Ansprüchen bezog und daher keinen neuen Einspruchsgrund im Sinne von G 10/91 (ABl. 1993, 420) darstellte.
In T 895/18 kam die Kammer unter Verweis auf G 9/91 (ABl. 1993, 408, Nr. 19 der Gründe) zu dem Schluss, dass laut EPÜ bei Änderungen im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren die Änderungen und damit insbesondere die sich aus den Änderungen ergebenden Ansprüche umfassend geprüft werden müssen. Das vom Beschwerdeführer (Patentinhaber) geltend gemachte Argument, es müsse einen "Parallelismus" zwischen der Behandlung unklarer Merkmale und unzulässiger Erweiterungen geben, wies die Kammer zurück, weil dabei außer Acht gelassen werde, dass mangelnde Klarheit – im Gegensatz zu unzulässiger Erweiterung – keiner der Einspruchsgründe nach Art. 100 EPÜ ist.
In T 571/19 stellte die Kammer fest, dass gemäß Art. 101 (3) a) EPÜ bei neuen Anträgen zu überprüfen ist, ob sie die Bedingungen des EPÜ erfüllen. Dies betreffe nicht die Klarheit im Falle der Kombination von erteilten Ansprüchen (G 3/14 – s. auch Kapitel IV.C.5.2.2) und das Erfordernis der Einheitlichkeit (G 1/91, Leitsatz). Jedoch sei auf jeden Fall das Erfordernis des Art. 123 (3) EPÜ zu prüfen (s. G 9/91 und G 10/91, Nr. 19 der Gründe; T 648/96; T 1302/06). Aus der Einspruchsentscheidung ging aber nicht hervor, wieso die Einspruchsabteilung die Bedingungen des Art. 123 (3) EPÜ für die Ansprüche des der Entscheidung zugrunde liegenden Hilfsantrags als erfüllt ansah. Sie genügte daher nicht dem Begründungserfordernis nach R. 111 (2) EPÜ. Die Tatsache, dass Art. 100 c) EPÜ kein Einspruchsgrund war und seitens der Einsprechenden kein Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ vorlag, war aus der Sicht der Kammer für die Prüfung der geänderten Ansprüche auf die Erfordernisse des Art. 123 (3) EPÜ durch die Einspruchsabteilung irrelevant.