2.2. Prioritätsrecht des Anmelders oder seines Rechtsnachfolgers
Gibt es mehrere Anmelder der Erstanmeldung und ist einer von ihnen der einzige Anmelder der Nachanmeldung, müssen die übrigen Mitanmelder ihm vor dem Anmeldetag der Nachanmeldung das gemeinsame Prioritätsrecht übertragen haben (s. T 382/07 mit weiteren Verweisen).
In T 844/18 war hauptsächlich folgende Frage zu beantworten: "A und B sind Anmelder der Prioritätsanmeldung. A ist alleiniger Anmelder der Nachanmeldung. Ist ein Prioritätsanspruch wirksam, auch ohne dass das Prioritätsrecht von B auf A übertragen wurde?". Einer von mehreren Anmeldern bestimmter vorläufiger US-Anmeldungen, deren Priorität beansprucht wurde, gehörte nicht zu den Anmeldern der dem Streitpatent zugrunde liegenden Anmeldung. Die Beschwerdeführer (Patentinhaber) hinterfragten den seit Langem praktizierten Ansatz, wonach "alle Anmelder" der Erstanmeldung auch Anmelder der Nachanmeldung (bzw. "derselbe Anmelder") sein müssen, den die Einspruchsabteilung im Einklang mit der Rechtsprechung der Kammern angewandt hatte.
Die Kammer sah die gewöhnliche Bedeutung des Begriffs "jedermann" in Art. 87 (1) EPÜ in allen Sprachfassungen als mehrdeutig an (vgl. Art. 4A (1) Pariser Verbandsübereinkunft, Art. 31 (1) Wiener Übereinkommen). In Übereinstimmung mit T 15/01 (ABl. 2006, 153) befand sie, dass es Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft (vgl. Art. 31 (1) und Art. 33 (4) Wiener Übereinkommen) ist, "für begrenzte Zeit die Interessen eines Patentanmelders, der internationalen Schutz für seine Erfindung erlangen will, zu wahren", und dass "die internationalen Prioritätsvorschriften der Pariser Verbandsübereinkunft … dem Anmelder die Erlangung internationalen Schutzes für seine Erfindung … erleichtern". Die Kammer widersprach der von den Beschwerdeführern vertretenen Auslegung des Begriffs "jedermann", wonach es A erlaubt wäre, alleine eine weitere Anmeldung in einem anderen Land einzureichen und dieselbe Erfindung zu beanspruchen, ohne B zu involvieren, und erklärte, dass es nicht Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft sein kann, eine oder mehrere Personen zum Nachteil aller anderen Personen zu begünstigen, die ursprünglich zu der Gruppe gehörten, die eine Patentanmeldung eingereicht hatte. Die Prioritätsbestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft sind seit 1883 im Wesentlichen unverändert, und es gibt keine EPA- oder nationale Rechtsprechung, in der die Auslegung der Beschwerdeführer eindeutig angewandt wird. Für eine Änderung der ständigen Rechtsprechung und Praxis muss es eine sehr hohe Hürde geben, weil eine Änderung disruptive Auswirkungen haben könnte. Die Fortsetzung bewährter und rational begründeter Praktiken könnte als Aspekt der Rechtssicherheit betrachtet werden. Anmelder, die die Priorität vorläufiger US-Anmeldungen für europäische Patentanmeldungen in Anspruch nehmen wollen, so die Kammer, müssen sich der Schwierigkeiten bewusst sein, die sich für sie ergeben können. Ursächlich dafür ist, dass die USA der Pariser Verbandsübereinkunft angehören. S. auch T 788/05 in Kapitel II.D.4.2.
In T 1513/17 (verbunden mit T 2719/19) bewertete die Kammer den sogenannten "Joint Applicants Approach" im Kontext einer PCT-Anmeldung. Die Anmeldung, auf die das Patent erteilt wurde, war ursprünglich von den Erfindern (nur für die USA) und dem Beschwerdeführer gemeinsam mit einer Universität (für alle übrigen Bestimmungsstaaten) als internationale Anmeldung nach dem PCT unter Beanspruchung der Priorität einer von den Erfindern eingereichten vorläufigen US-Anmeldung eingereicht worden. Die Einspruchsabteilung hatte den Prioritätsanspruch zurückgewiesen und das Patent wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit widerrufen. Gestützt auf Art. 11 (3) PCT sowie Art. 118 und 153 (2) EPÜ argumentierte der Patentinhaber, dass die PCT-Anmeldung dieselbe Wirkung habe wie die europäische Patentanmeldung. Selbst wenn die Anmelder, die die PCT-Anmeldung gemeinsam eingereicht haben, für verschiedene Bestimmungsstaaten unterschiedlich sind, sollte deshalb den Anmeldern für die Bestimmung "EP" das Prioritätsrecht zustehen, auf das ihre Mitanmelder (nur für die USA) Anspruch haben.
Die Kammer legte der Großen Beschwrdekammer die folgenden Fragen vor (Vorlage anhängig als G 1/22 und G 2/22):
I. Verleiht das EPÜ dem EPA die Zuständigkeit für die Feststellung, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, ein Rechtsnachfolger gemäß Artikel 87 (1) b) EPÜ zu sein?
II. Falls die Frage I bejaht wird, kann sich ein Beteiligter B wirksam auf das in einer PCT-Anmeldung beanspruchte Prioritätsrecht berufen, um Prioritätsrechte nach Art. 87 (1) EPÜ in Anspruch zu nehmen, wenn
1) in einer PCT-Anmeldung der Beteiligte A als Anmelder nur für die Vereinigten Staaten und der Beteiligte B als Anmelder für andere Bestimmungsstaaten genannt ist, die den regionalen europäischen Patentschutz einschließen, und
2) die PCT-Anmeldung die Priorität einer früheren Patentanmeldung beansprucht, in der der Beteiligte A als Anmelder genannt ist, und
3) die in der PCT-Anmeldung beanspruchte Priorität Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft entspricht?