5.11. Artikel 12 (4) VOBK 2007
Die Beschwerdebegründung musste nach Art. 12 (2) VOBK 2007 den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten (ähnlich jetzt Art. 12(3) VOBK 2020). Nach Art. 12 (4) VOBK 2007 berücksichtigt die Kammer grundsätzlich das gesamte Vorbringen der Beteiligten nach Art. 12 (1) VOBK 2007, wenn und soweit es sich auf die Beschwerdesache bezieht (Voraussetzung nicht erfüllt z. B. in T 2182/17) und die Erfordernisse des Art. 12 (2) VOBK 2007 erfüllt. In der Beschwerdebegründung oder Erwiderung nicht ausreichend substantiierte Anträge wurden z. B. in T 1855/16, T 2682/16 und T 716/17 gemäss Art. 12 (2) und (4) VOBK 2007 nicht zugelassen. Zum Substantiierungserfordenis nach Art. 12 (2) VOBK 2007, siehe auch Kapitel V.A.5.12.6 "Nicht substantiierte Anträge".
Art. 12 (4) VOBK 2007 (der in einigen Übergangsfällen weiterhin anwendbar ist, s. Kapitel V.A.4.3.2) stellt es jedoch in das Ermessen der Kammer, solche Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind. Art. 12(6) VOBK 2020 nimmt diesen Aspekt des Art. 12(4) VOBK 2007 und die ständige Rechtsprechung dazu auf (siehe CA/3/19, Erläuterungen zu Art. 12(6) VOBK 2020; siehe auch Kapitel V.A.4.3.6 und V.A.4.3.7 über die Rechtsprechung zu Art. 12(6) VOBK 2020).
In vielen Entscheidungen wird auf die von der Großen Beschwerdekammer entwickelten Grundsätze G 9/91 und G 10/91 (ABl. 1993, 408, 420) zum im EPÜ vorgesehen zweiseitigen Beschwerdeverfahren verwiesen. Art. 12 (4) VOBK 2007 steht im Einklang mit den von der Großen Beschwerdekammer zu den Art. 113 und 114 EPÜ entwickelten Grundsätzen zum Einspruchsbeschwerdeverfahren (T 2102/08). Die Beschwerdekammern verfügen als Überprüfungsinstanz über ein Ermessen, neues Vorbringen einschließlich neuer Anträge (Anspruchssätze), das nicht im Einspruchsverfahren eingereicht wurde, zurückzuweisen (T 240/04, T 1705/07, T 23/10, T 1525/10). Damit wird eine faire und zuverlässige Durchführung des gerichtlichen Beschwerdeverfahrens gewährleistet (T 23/10, T 1165/10, T 301/11). Dies ist auch von der Großen Beschwerdekammer bestätigt worden (R 10/09 R 11/11).
Aus dem auf Überprüfung gerichteten Zweck des verwaltungsgerichtlichen Einspruchsbeschwerdeverfahrens folgt, dass die Entscheidungen der Beschwerdekammern im Prinzip auf der Basis des Streitstoffes vor der Einspruchsabteilung ergehen. Hieraus lässt sich unmittelbar herleiten, dass der Streitstoff in zweiter Instanz von den Beteiligten nur eingeschränkt geändert werden kann. Dieser Grundsatz findet seine Entsprechung in Art. 12 (4) VOBK 2007. Im Beschwerdeverfahren soll kein gänzlich neuer Fall, kein "fresh case" geschaffen werden (T 1705/07, T 356/08, T 1067/08, T 2102/08, T 144/09, T 881/09, T 936/09, T 23/10, T 935/12, T 101/17). In T 2135/13 interpretierte die Kammer den Begriff "fresh case" als maßgebliche Änderung des Verfahrensgegenstands.
Art. 12 (4) VOBK 2007 sanktioniert die Verletzung der Pflicht zur Verfahrensbeförderung in erster Instanz, d.h. der bis zu einem bestimmten Verfahrenszeitpunkt gebotenen, aber unterbliebenen Mitwirkung durch Vorlage von Tatsachen, Beweismitteln oder Anträgen, und dient daher sowohl dem Gebot eines fairen Verfahrens als auch der Verfahrensbeschleunigung (s. auch z. B. T 724/08, T 162/09, T 1953/16, T 101/17, T 2696/16). Art. 12 (4) VOBK 2007 behandelt gleiche, verspätetes Vorbringen betreffende Sachverhalte auch nicht willkürlich und systemwidrig ungleich. Die Pflicht zur Verfahrensbeförderung trifft die Einsprechenden (in Bezug auf die Vorlage der Angriffsmittel) und den Patentinhaber (in Bezug auf die Verteidigungsmittel) gleichermaßen (T 2102/08, T 28/10, T 2117/17).
Art. 12 (4) VOBK 2007 stellt klar, dass neues Vorbringen kaum Aussicht auf Berücksichtigung hat, wenn der entsprechende Vortrag schon in erster Instanz veranlasst gewesen wäre (T 339/06, T 416/07).
Wie die Kammer in T 301/11 erklärte, bewirkt das Erfordernis, wonach alle Beteiligten ihr Vorbringen während des Einspruchsverfahrens abzuschließen haben, dass der Zeitpunkt, zu dem das Vorbringen abgeschlossen sein muss, nicht durch die Verfahrensstrategie der Beteiligten bestimmt wird. Gemäß Art. 12 (4) VOBK 2007 hängt die Zulassung von Hilfsanträgen zum Verfahren davon ab, ob ein Beteiligter des Beschwerdeverfahrens in der Lage war, sein Vorbringen früher einzureichen, und ob dies unter den gegebenen Umständen von ihm erwartet werden konnte (s. auch T 23/10, T 969/14).
Wie in T 1953/16 erläutert, erfordert nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern die erstmalige Einreichung neuer Dokumente im Beschwerdeverfahren einen triftigen und plausiblen Grund im konkreten Einzelfall und insbesondere außergewöhnliche Umstände, die eine solche verspätete Einreichung rechtfertigen. Das bedeutet, verspätet vorgebrachte Dokumente können grundsätzlich zugelassen werden, wenn es sich z. B. um eine normale Reaktion auf eine späte Entwicklung (in der mündlichen Verhandlung) im Einspruchsverfahren, um eine außergewöhnliche Interpretation durch die Einspruchsabteilung zu einem späten Verfahrenszeitpunkt bzw. in ihrer Entscheidung oder um eine offensichtliche Nichtgewährbarkeit angesichts neu angeführter Dokumente und/oder Einwände handelt. S. auch T 2696/16.
In T 1067/08 stellte die Kammer fest, dass ein Beschwerdeverfahren nicht einfach ein alternativer Weg zur Verhandlung und Entscheidung über einen Einspruch ist und dass es den Beteiligten der ersten Instanz nicht freisteht, ihre Sache in die zweite Instanz zu verlagern und so die Beschwerdekammern entweder zu einem Ersturteil über die kritischen Fragen oder zur Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz zu zwingen. Den Verfahrensbeteiligten (und/oder der ersten Instanz) diese Freiheit einzuräumen, liefe einem ordnungsgemäßen und effizienten Verfahren zuwider. Dies hätte nämlich eine Art "Forum-Shopping" zur Folge, das die korrekte Aufgabenverteilung zwischen erster Instanz und Beschwerdekammern gefährden würde und mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie absolut unvereinbar wäre. Die Kammer beschloss, den Hauptantrag nicht zum Beschwerdeverfahren zuzulassen, und stellte fest, dass die Ausübung der Befugnisse nach Art. 12 (4) VOBK 2007 auch dann berechtigt sein kann, wenn ein Beteiligter die erste Instanz durch sein Verhalten de facto an einer begründeten Entscheidung zu den kritischen Fragen gehindert hat (s. auch T 936/09, T 495/10, T 2017/14, T 101/17).
In T 1873/11 folgte die Kammer nicht der Behauptung des Beschwerdeführers, dass die Verwendung des Begriffs "Befugnis" in Art. 12 (4) VOBK 2007 (im Gegensatz zu dem Begriff "Ermessen" in Art. 13 (1) VOBK 2007) eine Ermessungsentscheidung durch die Kammer ausschließe. Die Kammer wies darauf hin, dass der Begriff "Befugnis" vielmehr gerade die Entscheidungsmöglichkeit, Anträge etc. unter bestimmten, in der VOBK 2007 genannten Umständen nicht zum Verfahren zuzulassen, impliziert.
Da fast jeder Antrag vor der ersten Instanz eingereicht werden könnte, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob ein Antrag bereits in diesem Stadium hätte eingereicht werden sollen (T 273/11, s. auch T 1162/11 und T 101/17). S. auch T 419/12, T 1848/12, T 569/14, T 1855/16.
In R 11/11 und R 13/11 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass aus ihrer Rechtsprechung klar hervorgehe, dass das Überprüfungsverfahren nicht dazu genutzt werden könne, die Ermessensausübung einer Beschwerdekammer zu überprüfen, wenn dies eine unzulässige Berücksichtigung von Sachfragen beinhalten würde. Dies sei auch im besonderen Kontext des Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2007 bestätigt worden. S. auch R 4/13.
- T 620/19
Catchword:
A characteristic employed in the prior art concerned was introduced to the claims as a limitation. This amendment was not suitable for addressing the fundamental novelty issue in the case. In that sense, the amended claim set (auxiliary request 5) did not "[relate] to the case under appeal" and was not taken into account (Article 12(4) RPBA 2007).
- T 2117/18
Catchword:
In order to substantiate an objection in the appeal proceedings which the Opposition Division did not consider convincing, it is necessary to provide specific reasons why the finding and the reasoning in the decision under appeal is supposedly incorrect with regard to this objection (Reasons 2.2.2-2.2.11). As a rule, in appeal proceedings general references to submissions made in the proceedings before the departments of first instance are not taken into account due to a lack of substantiation. Attaching the notice of opposition to the statement of grounds of appeal is to be considered equivalent to such a general reference to previous submissions (Reasons 2.2.13-2.2.14). An objection is to be considered to have been validly submitted only at the time on which sufficient substantiation is provided (Reasons 2.2.17).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache