6.2. Neuheit chemischer Verbindungen und Stoffgruppen
Die Rechtsprechung zur Neuheit im Bereich von Stoffgruppen und speziellen Beispielen aus solchen Stoffgruppen fasste die Entscheidung T 12/90 zusammen. Zu entscheiden war über die Neuheit einer sehr umfangreichen Familie chemischer Verbindungen, die durch eine allgemeine Strukturformel definiert war. Der Stand der Technik offenbarte eine ebenfalls sehr umfangreiche Familie, die auch durch eine allgemeine Strukturformel definiert war. Den beiden Familien war eine große Zahl der Stoffe gemeinsam. Die Kammer führte aus, dass zwischen den folgenden beiden Fällen zu unterscheiden sei:
a) Wenn die Erfindung einen konkreten Stoff zum Gegenstand habe, während der Stand der Technik eine durch eine allgemeine Strukturformel definierte Stofffamilie offenbare, die zwar den konkreten Stoff einschließe, ihn aber nicht ausdrücklich beschreibe, dann müsse die Erfindung als neu angesehen werden (vgl. T 7/86, T 85/87, T 133/92).
b) Wenn die Erfindung beim gleichen Stand der Technik wie im ersten Fall eine zweite Stofffamilie zum Gegenstand habe, die sich teilweise mit der ersten decke, so sei sie nicht mehr neu (vgl. T 124/87).
Zu Fall a) führte die Kammer aus: "Dieser Fall ist mit dem vorliegenden, in dem über die Neuheit einer durch eine allgemeine Formel beschriebenen Stoffgruppe gegenüber einer diese teilweise umfassenden anderen, durch eine andere allgemeine Formel beschriebenen Stoffgruppe zu entscheiden ist, nicht vergleichbar, denn das Konzept der Individualisierung passt begrifflich nur zur strukturellen Definition einer Einzelverbindung, nicht aber eines Kollektivs."
Der Fall b) wurde in T 124/87 (ABl. 1989, 491) ausführlich diskutiert. Diese Entscheidung befasste sich mit der Beurteilung der Neuheit einer Klasse von Verbindungen, die durch Parameter definiert sind, die innerhalb bestimmter Zahlenbereiche liegen. Das angefochtene Patent beanspruchte eine Klasse von Verbindungen, die durch solche Parameter definiert waren, während der Stand der Technik ein Verfahren offenbarte, durch das eine Klasse von Verbindungen einschließlich der im angefochtenen Patent beanspruchten hergestellt werden konnte, die die im Hauptanspruch dieses Patents beanspruchte Parameterkombination aufwies. In diesem Spezialfall offenbarte das im Stand der Technik konkret beschriebene Beispiel zwar nicht die Herstellung bestimmter Verbindungen aus der in den Ansprüchen des angefochtenen Patents definierten Klasse. Der Patentinhaber hatte jedoch eingeräumt, dass der Fachmann diese Verbindungen ohne Weiteres anhand des in dem älteren Dokument beschriebenen Verfahrens unter Zuhilfenahme seines allgemeinen Fachwissens hätte herstellen können; es war also davon auszugehen, dass die Offenbarung dieses Dokuments sich nicht nur auf die besonderen Verbindungen beschränkte, deren Herstellung in den Beispielen beschrieben war, sondern auch die allgemeine Klasse von Verbindungen umfasste, die dem Fachmann mit dieser technischen Lehre zugänglich gemacht wurden, obwohl nur die Herstellung einiger Verbindungen dieser Klasse beschrieben war. Da die in den Ansprüchen des angefochtenen Patents definierten Verbindungen einen Großteil dieser Klasse ausmachten, gehörten sie zum Stand der Technik und waren deshalb nicht neu.
In T 133/92 ging es bei der Neuheitsprüfung um die Frage, ob die Auswahl der Alkylgruppe nach Anspruch 1 des Streitpatents im Hinblick auf die Offenbarung der Entgegenhaltung eines älteren Dokuments der Öffentlichkeit zugänglich war. Unter Berufung auf T 666/89 (ABl. 1993, 495) behaupteten die Patentinhaber, dass der rechtlich korrekte Ansatz für die Beurteilung der Neuheit von Auswahlerfindungen mit dem für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zugrunde gelegten identisch oder ihm zumindest sehr ähnlich sei. Insbesondere machte er geltend, dass bei sich überschneidenden Bereichen von Verbindungen ein Anspruch auf einen Bereich, der gegenüber dem zum Stand der Technik gehörenden enger sei, unter dem Gesichtspunkt der Auswahl immer neu sei, wenn nachgewiesen werden könne, dass der engere Bereich gegenüber dem breiteren erfinderisch sei. Die Kammer wandte jedoch ein, dass in dem angegebenen Fall die Kammer wiederholt darauf hingewiesen habe, dass die Neuheit im Falle einer Auswahlerfindung nicht anders zu bewerten sei als in den anderen in Art. 52 und 54 EPÜ 1973 angesprochenen Fällen, sodass der richtige Ansatz darin bestehe, die Zugänglichkeit im Lichte eines bestimmten Dokuments zu beurteilen. Sie kam daher zu dem Schluss, dass eine beanspruchte Gruppe von Verbindungen, die durch Weglassen der Teile einer größeren Gruppe entstehe, die der Fachmann sofort als weniger interessant als die übrigen angesehen hätte, nicht selektiv neu sein könne. Zudem hätte der Fachmann nach diesen Überlegungen ernsthaft in Betracht gezogen, die technische Lehre des bekannten Dokuments im Überschneidungsbereich anzuwenden.