5.5.1 Mehrdeutige Parameter
In T 815/07 (absorbierender Artikel, der unter Bezugnahme auf einen mit einer bestimmten Methode zu messenden Parameterbereich definiert wird) wies die Kammer darauf hin (Orientierungssatz), dass der in einem Anspruch enthaltene Parameter dazu diene, ein wesentliches technisches Merkmal der Erfindung zu definieren. Seine Bedeutung bestehe darin, dass das Vorhandensein des technischen Merkmals zur Lösung der der Erfindung zugrunde liegenden technischen Aufgabe beitrage. Mit dem angegebenen Verfahren zur Bestimmung des Parameters müssten sich daher gleichbleibende Werte erzielen lassen, sodass der Fachmann bei Ausführung der Erfindung erkennen könne, ob das, was er erhalte, die Aufgabe löse oder nicht. Diese Entscheidung wurde in T 120/08, T 593/09 und T 1305/15 angeführt (und bestätigt). Gemäß T 593/09 ("ill-defined ('unclear', 'ambiguous') parameter") ist die Behauptung, der Fachmann sei außerstande festzustellen, ob er sich innerhalb des Schutzbereichs des Anspruchs befindet, als solche kein triftiger Grund, die ausreichende Offenbarung zu verneinen (s. Nr. 4.1.4 der Gründe). Entscheidend ist, ob der Parameter so ungenau definiert ist, dass es dem Fachmann nicht möglich ist, die zur Lösung der patentgemäßen Aufgabe erforderlichen technischen Maßnahmen (z. B. Wahl geeigneter Verbindungen) anhand der Offenbarung als Ganzes und mit Hilfe seines allgemeinen Fachwissens (ohne unzumutbaren Aufwand) zu identifizieren. Diese Entscheidungen werden in T 1845/14 (s. u.) teilweise kritisiert. Was die Frage betraf, ob der Fachmann weiß, ob er sich innerhalb oder außerhalb des Schutzbereichs des Anspruchs befindet, bestätigte T 1960/14 weder T 256/87 (Nr. 17 der Gründe) noch T 815/07 (Nr. 6 der Gründe).
In T 59/18 war die Relaxationsrate ein wesentliches Merkmal, das die letztendlichen Eigenschaften der gewonnenen Folie beeinflusst und somit für die Lösung der patentgemäßen technischen Aufgabe relevant war. In Übereinstimmung mit den Entscheidungen T 593/09 und T 2403/11 beeinträchtigte deshalb der unklare Begriff "Relaxationsrate" zwingend die ausreichende Offenbarung, da es nicht möglich war, das Verfahren zur Herstellung der beanspruchten mehrlagigen Folie auszuführen, ohne zu wissen, wie diese Rate erzielt, gemessen und kontrolliert wird.
Auf den Fall T 147/12 ließ die Schlussfolgerung aus T 815/07 nicht übertragen. In T 815/07 betraf Anspruch 1 einen absorbierenden Artikel mit einem absorbierenden Kern und einer Schritt-Region, die durch ihr Absorptionsvermögen in Relation zum gesamten Absorptionsvermögen des absorbierenden Kerns definiert wurde, wobei das Absorptionsvermögen durch das Testverfahren A bestimmt wurde. Die mit diesem Fall befasste Kammer stellte fest, dass die Struktur des beanspruchten Artikels eine Wirkung auf die tatsächlich absorbierte Flüssigkeitsmenge hätte. Weil das Patent keine hinreichenden Informationen über die getesteten Artikel hinsichtlich deren Struktur, Material und Regionen bereitstellte, ergab das in Anspruch 1 definierte Testverfahren völlig willkürliche Werte für das Absorptionsvermögen der Schritt-Region. Der beanspruchte Gegenstand war somit nicht hinreichend offenbart. In der Sache T 147/12 hingegen hing der Alkalimetallgehalt nur vom Verfahren zu seiner Bestimmung ab und nicht von etwaigen Variablen oder Merkmalen, die das beanspruchte Verfahren kennzeichnen würden.
In T 808/09 war dem Patent (Patrone zur Verwendung in einer Getränkezubereitungsmaschine/flüssige Schokoladenzutat) nach Ansicht der Kammer nicht zu entnehmen, wie der maßgebliche Parameter der Erfindung, nämlich die Viskosität der flüssigen Schokoladenzutat, zu messen war. Selbst wenn dieses Viskositätsmerkmal in den Oberbegriff des Verfahrensanspruchs 1 verschoben worden wäre und sich der Oberbegriff auf den Stand der Technik bezogen hätte, hätte dies das Problem der unzureichenden Offenbarung nicht gelöst. Damit nämlich die Bezugnahme auf einen Stand der Technik im Oberbegriff diesen Zweck angemessen erfüllt, muss das Streitpatent trotzdem alle nötigen Informationen so detailliert enthalten, dass der Fachmann die Erfindung ausführen kann. Im vorliegenden Fall wären dafür Angaben erforderlich gewesen, mit welcher Vorrichtung die Viskosität zu messen ist und welche Parameter dabei zu beachten sind. Diese Angaben fehlten jedoch völlig.
In T 1845/14 entschied die Kammer, dass bei einem unklaren Parameter, der in einem Anspruch definiert wird und dessen anspruchsgemäßen Werte laut Beschreibung für die Lösung der dem strittigen Patent zugrunde liegenden Aufgabe wesentlich sind, die Befähigung des Fachmanns, diese Aufgabe zu lösen, indem er den beanspruchten Gegenstand nacharbeitet, kein angemessenes Kriterium für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung ist, wenn die Aufgabe oder eine daraus ableitbare Wirkung weder explizit noch implizit Teil der Definition des beanspruchten Gegenstands ist (Nr. 9.8 der Gründe). Die Kammer in T 1845/14 befasste sich mit den Begründungen in T 593/09, T 815/07, T 172/99 und T 608/07 ("Versprechen der Erfindung" vielmehr eine Frage der erfinderischen Tätigkeit) und hielt fest, dass allen vorgenannten Entscheidungen über einen mehrdeutig definierten Parameter in einem Anspruch eine Definition des Begriffs "Erfindung" zugrunde liege, die nicht auf die Kombination der im betreffenden Anspruch begrifflich definierten Merkmale gerichtet sei, sondern vielmehr auf die erfinderische Idee, die der Erfinder im Sinn hatte und die den Patentinhaber bewogen hatte, für den beanspruchten Gegenstand Schutz zu begehren. Die Kammer in T 1845/14 ließ sich in ihrer eingehenden Begründung von Grundsatzentscheidungen leiten wie T 435/91 (ABl. 1995, 188), T 939/92 (ABl. 1996, 309), denen zufolge es – vorausgesetzt, die im Streitpatent angegebene Aufgabe ergibt sich nicht aus dem Anspruchswortlaut z. B. im Sinne einer Wirkung oder einer funktionellen Definition – keine ersichtliche Rechtfertigung dafür gibt, einen Beitrag zum Stand der Technik, der ein patentrechtliches Monopol rechtfertigt, aufgrund der bloßen Tatsache zu verneinen, dass der beanspruchte Gegenstand eine ursprünglich in der Beschreibung angegebene Aufgabe nicht löst. Der Begriff "Erfindung" entspreche gemäß R. 43 (1) EPÜ der spezifischen Merkmalskombination im Anspruch, woran in der Stellungnahme G 2/98 (ABl. 2001, 413) erinnert werde, deren Definition in Fragen der Priorität, Neuheit und erfinderischen Tätigkeit zum Tragen komme. In der Sache T 1845/14 sah die Kammer keinen Anlass, dem Begriff "Erfindung" in Zusammenhang mit ausreichender Offenbarung eine andere Bedeutung beizumessen. So gebe es keinen Grund, die Erfindung auf der Grundlage einer laut Patent mit dem beanspruchten Gegenstand zu erzielenden Wirkung zu definieren oder auf der Grundlage spezifischer Bedingungen für die Messung eines Parameters, wenn der Anspruchswortlaut dies nicht erfordere. Die Erfindung werde durch die in den Ansprüchen verwendeten Begriffe definiert, denen in ihrem Kontext die breiteste technisch sinnvolle Bedeutung zuzuweisen sei. Die Kammer sah ihren Standpunkt auch durch G 1/03 (ABl. 2004, 413 – zu nicht funktionsfähigen Ausführungsformen) gestützt.
Die Entscheidung T 1845/14 wurde in diesem Punkt durch die spätere Rechtsprechung in T 1900/17, T 409/17, T 1260/16, T 189/16, T 1744/14 bestätigt. Es fand sich keine Entscheidung, die T 1845/14 beanstandet. In T 786/15 befand die Kammer in Anbetracht der Möglichkeit, das Verfahren zur Messung des Tg-Parameters durch Reverse-Engineering zu kalibrieren (Parameter nicht mehrdeutig), die Rechtsprechung zu mehrdeutigen Parametern (u. a. T 1845/14) für nicht anwendbar.
Weitere Entscheidungen betreffend die Messung wesentlicher Parameter: T 83/01 (spezifischer mittlerer Durchmesser) und T 1250/01 (Sears-Zahl); T 808/09 (Viskosität).