11.6.11 Fälle betreffend den Entscheidungsfindungsprozess und die Entscheidung
(i) Begründungspflicht bei Ablehnung von Anträgen
Nach T 961/00 gehört es zu den Verfahrensrechten eines Beteiligten, Anträge, die von der zuständigen Stelle als nicht gewährbar oder sogar als unzulässig erachtet werden, zu stellen und aufrechtzuerhalten. Wenn ein Beteiligter dies tut, muss die zuständige Stelle eine Entscheidung erlassen (s. T 1105/96, ABl. 1998, 249); sie darf sie jedoch nicht einfach übergehen und in der Sache so verfahren, als gebe es den Antrag nicht. Dies würde vielmehr einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellen (s. auch T 234/86, T 484/88, T 155/88).
In T 1157/01 war es in der angefochtenen Entscheidung versäumt worden, die Ablehnung der vor der Prüfungsabteilung noch anhängigen vorrangigen Anträge zu begründen. Dies stellte einen wesentlichen Verfahrensfehler dar (s. auch T 488/94; für das Einspruchsverfahren s. T 234/86, ABl. 1989, 79).
In T 1435/13 befand die Kammer, dass dem Hauptantrag nicht stattgegeben werden konnte, weil dessen Anspruch 1 nicht die Erfordernisse des EPÜ erfüllte. An dieser Schlussfolgerung änderte die Tatsache nichts, dass der unabhängige Anspruch 9 die Erfordernisse des EPÜ erfüllte oder dass es wünschenswert gewesen wäre, in der angefochtenen Entscheidung eine Begründung für alle unabhängigen Ansprüche (also auch für Anspruch 9) zu geben. Da die Prüfungsabteilung über sämtliche ihr vorliegenden Ansprüche entschieden hatte, sah die Kammer keinen wesentlichen Verfahrensmangel.
(ii) Hilfsanträge und Reihenfolge der Anträge
In J 23/96 stellte die Beschwerdekammer fest, dass ein Hilfsantrag für den Fall gestellt wird, dass der Hauptantrag nicht gewährt werden könne; er rücke dem Hauptantrag nach und sei in der gleichen Entscheidung zu bescheiden wie der Hauptantrag. Dass die Prüfungsabteilung es versäumt hatte, sich mit dem Hilfsantrag auf Wiedereinsetzung nach R. 69 (2) EPÜ 1973 (R. 112 (2) EPÜ) zu befassen, stellte einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
In T 320/99 (unter Berufung auf T 1105/96) hielt die Prüfungsabteilung den Hilfsantrag für gewährbar, erließ aber trotzdem eine Entscheidung, mit welcher der Hauptantrag und damit die Anmeldung zurückgewiesen wurde. Die richtige Vorgehensweise hätte darin bestanden, auf der Grundlage des Hilfsantrags eine Mitteilung nach R. 51 (4) EPÜ 1973 zu erlassen. Der Erlass der Entscheidung stellte einen wesentlichen Verfahrensfehler dar, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigte.
In T 883/07 urteilte die Kammer, dass die Tatsache, dass die Prüfungsabteilung die Hilfsanträge nicht unabhängig vom Hauptantrag geprüft hatte, einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der R. 67 EPÜ 1973 darstellte. Anträge mit Ansprüchen bestehen nicht nebeneinander, sondern bilden eine Pyramide und müssen – jeder unabhängig von allen anderen – in der vom Anmelder oder Patentinhaber angegebenen Reihenfolge geprüft werden (s. Richtlinien C‑VI, 4.1 und E‑X, 3 – Stand Juni 2005).
In T 1758/15 hatte die Einspruchsabteilung entschieden, dass vier Versuche, einen einzigen Einwand zu überwinden, genug seien. Die Entscheidung, einen weiteren Antrag nicht zuzulassen, wurde getroffen, ohne dass Anzeichen für einen Verfahrensmissbrauch festgestellt worden wären, und ohne Kenntnis des Inhalts des weiteren Antrags. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach R. 116 (2) und Art. 114 (2) EPÜ nicht auf angemessene Weise ausgeübt hat, was einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt. Da jedoch der Beschwerde nicht stattgegeben wurde, wurde die Beschwerdegebühr nicht zurückgezahlt. Während der zweiten mündlichen Verhandlung zog der Beschwerdeführer seinen Antrag auf Rückzahlung ohnehin zurück.
(iii) Vom EPA nicht berücksichtigte Anträge wegen inneramtlichen Verzögerung
In T 231/85 (ABl. 1989, 74) führte die Kammer aus, dass eine Nichtberücksichtigung von eingegangenen Anträgen des Anmelders wegen einer inneramtlichen Verzögerung (hier 6 Wochen) einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt (s. auch T 598/88); so auch in T 205/89, wo durch ein Versehen des Formalsachbearbeiters ein Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme im Einspruchsverfahren nie die Einspruchsabteilung erreichte, die daher ihre Entscheidung traf, ohne die in der später eingereichten Stellungnahme vorgetragenen Argumente zu berücksichtigen. Die Kammer betrachtete das Versäumnis der Formalprüfungsstelle als einen wesentlichen Verfahrensmangel und erachtete die Rückzahlung der Beschwerdegebühr somit für billig.
(iv) Nicht vom richtigen Beteiligten gestellte Anträge
In T 1178/04 war ein Verfahrensmangel im Sinne von R. 67 EPÜ 1973 aufgetreten, der darin bestand, dass die Anträge zur Patentierbarkeit der beanspruchten Erfindung in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung von einem Beteiligten gestellt wurden, auf den der Einspruch augenscheinlich, aber nicht wirksam übertragen worden war. Diese Anträge waren unzulässig.