8. Das Verhältnis zwischen Artikel 83 und Artikel 84 EPÜ
Die Patentansprüche müssen den Gegenstand deutlich angeben, für den Schutz begehrt wird (Art. 84 EPÜ). In T 94/82 (ABl. 1984, 75) wird ausgeführt, dass dieses Erfordernis bei einem Erzeugnisanspruch auch dann erfüllt ist, wenn die Eigenschaften des Erzeugnisses durch Parameter angegeben werden, die sich auf die physikalische Struktur des Erzeugnisses beziehen, sofern diese Parameter eindeutig und zuverlässig durch auf dem technischen Gebiet übliche objektive Verfahren bestimmt werden können. Bei einem solchen Erzeugnisanspruch genügt es, die physikalischen Eigenschaften des Erzeugnisses durch Parameter anzugeben, da der Anspruch selbst keine Hinweise darauf zu enthalten braucht, wie das Erzeugnis herzustellen ist. Die Beschreibung muss jedoch den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ 1973 entsprechen und es dem Fachmann ermöglichen, das in ihr beschriebene beanspruchte Erzeugnis herzustellen (vgl. auch T 487/89, T 297/90 und T 541/97). Dies darf nicht dahin gehend verstanden werden, dass auch Varianten erfasst werden, die zwar dem Wortsinn nach unter den Anspruch fallen, die der Fachmann aber sofort als eindeutig außerhalb des praktischen Anwendungsbereichs des beanspruchten Gegenstands liegend verworfen hätte. Dies sei beispielsweise bei Ansprüchen der Fall, die einen nach oben offenen Bereich für einen Parameter abdeckten, wenn für den Fachmann klar sei, dass dieser Bereich in der Praxis begrenzt sei. In der Praxis nicht erzielbare Werte für den Parameter würden vom Fachmann nicht als unter die Ansprüche fallend angesehen und könnten daher keinen Einwand der mangelnden Offenbarung begründen (T 1018/05). S. auch T 1943/15 ("offener Bereich").
Es ist bedeutsam, ob ein Problem unter Art. 83 oder Art. 84 EPÜ fällt, weil im ersten Fall eine Prüfung noch im Einspruchsverfahren zulässig ist, während sich im zweiten Fall eine Prüfung im Einspruchsverfahren auf die Fälle beschränkt, in denen eine Änderung eingetreten ist (s. T 127/85, ABl. 1989, 271; vgl. auch T 301/87, ABl. 1990, 335; T 1055/98, und T 5/99). Näheres zur Prüfung der Erfordernisse des Art. 84 EPÜ im Einspruchsverfahren findet sich in Kapitel II.A.1.4. und der neueren Entscheidung G 3/14, in der die mit T 301/87 gesetzte Rechtsprechung bestätigt wurde).
In T 292/85 (ABl. 1989, 275) wurde die Zurückweisung durch die Prüfungsabteilung damit begründet, dass die Erfindung nicht nach Art. 83 EPÜ 1973 ausreichend offenbart sei und somit auch die in Art. 84 EPÜ 1973 geforderte ausreichende Stützung fehle. Die Kammer legte dar, dass in bestimmten Fällen die Erfindung (der Gegenstand des Schutzbegehrens, Art. 84 EPÜ 1973) wegen der Art der beanspruchten Erfindung nur anhand funktioneller Begriffe in den Ansprüchen so beschrieben werden könne, dass ein angemessener Schutz gewährt werden könne. Die Notwendigkeit eines angemessenen Schutzes sei sowohl für die Überlegungen zum Umfang der Ansprüche als auch für die Anforderungen an eine ausreichende Offenbarung maßgeblich. Die Kammer stellte fest, dass eine Erfindung hinreichend offenbart ist, wenn mindestens ein Weg deutlich aufgezeigt wird, wie der Fachmann die Erfindung ausführen kann.
In T 409/91 (ABl. 1994, 653; Ex-parte) und T 435/91 (ABl. 1995, 188; Inter-partes) wurde dargelegt, dass der Schutzbereich eines Patents dem technischen Beitrag entspricht, den die Offenbarung der darin beschriebenen Erfindung zum Stand der Technik leistet. Daher darf sich das mit dem Patent verliehene Monopol nicht auf Gegenstände erstrecken, die dem Fachmann auch nach der Lektüre der Patentschrift noch nicht zur Verfügung stehen. Die vorhandenen Informationen müssen den Fachmann in die Lage versetzen, das angestrebte Ergebnis im gesamten Bereich des Anspruchs, der die betreffende funktionelle Definition enthält, ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen, und die Beschreibung muss mit oder ohne das einschlägige allgemeine Fachwissen eine in sich geschlossene technische Lehre vermitteln, wie man zu diesem Ergebnis gelangt. Die Entscheidung T 409/91 wurde in T 713/98 bestätigt, in der die Kammer feststellte, dass das Erfordernis des Verständnisses eines Anspruchs, der durch ein funktionelles Merkmal in Bezug auf ein angestrebtes Ergebnis gekennzeichnet ist, ein Erfordernis der Klarheit im Sinne von Art. 84 EPÜ 1973 sei, wohingegen die Ausführbarkeit ein Erfordernis der Stützung durch die Beschreibung, ebenfalls im Sinne von Art. 84 EPÜ 1973, sei. Für die Frage nach der ausreichenden Offenbarung gemäß Art. 83 EPÜ 1973 sei die Ausführung in Bezug auf die Offenbarung als Ganzes von wesentlicher Bedeutung. S. auch T 1225/07.
In dem Inter-partes-Verfahren T 435/91 (ABl. 1995, 188) war eines der wesentlichen technischen Merkmale nur durch seine Funktion definiert. Es sei nicht möglich, anhand der in der Patentschrift enthaltenen Angaben und des allgemeinen Fachwissens andere erfolgversprechende Komponenten zu ermitteln als die ausdrücklich erwähnten. Die Kammer stellte fest, dass dem Fachmann all diese Alternativen auch zur Verfügung stehen müssten, wenn die Definition den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ 1973 genügen soll.
Solange jedoch keine konkreten Anhaltspunkte vorliegen, dass die Erfindung nicht im gesamten beanspruchten Bereich ausführbar ist, gibt es keinen Grund, einer Anmeldung breiter gefasste Ansprüche zu verwehren (T 242/92, T 484/92). Im Einspruchsverfahren trägt der Einsprechende die Beweislast dafür, dass die Erfindung nicht im gesamten beanspruchten Bereich ausführbar ist (T 418/91, T 456/91, T 548/91). S. dieses Kapitel II.C.9.
In T 1404/05 befand die Kammer wie folgt: Wenn ein Anspruch vage formuliert ist und mehrere Auslegungsmöglichkeiten offen lässt und wenn bei einer dieser Auslegungen ein Teil des beanspruchten Gegenstands nicht ausreichend genug beschrieben ist, dass er ausgeführt werden könnte, so kann dieser Anspruch nach Art. 100 b) EPÜ 1973 beanstandet werden. Um diese Beanstandung zu umgehen, muss der Anspruch explizit auf eine Auslegung beschränkt werden, die auch nach der vagen Anspruchsformulierung möglich ist, die aber nicht nach Art. 100 b) EPÜ 1973 beanstandet werden kann. Die Tatsache allein, dass in der Beschreibung diese letztere Auslegung klar als die beabsichtigte gekennzeichnet ist, bedeutet nicht, dass der Anspruch als auf diese Auslegung beschränkt behandelt werden kann. Art. 69 EPÜ 1973 und das zugehörige Protokoll sollten den Patentinhaber darin unterstützen, eine breitere Anspruchsinterpretation zu verfolgen als durch den Wortlaut vielleicht gerechtfertigt wäre, und waren nicht dazu gedacht, den Schutzumfang zu verkleinern.
In T 553/11 führte die Kammer aus, dass der Patentinhaber, wenn er einen engen Schutzbereich des Patentanspruchs geltend machen möchte, dies auf den einfachen Wortlaut des Anspruchs stützen sollte und nicht auf etwas, das nur in der Beschreibung enthalten ist (in Anlehnung an T 1404/05). Die Kammer verwies ferner auf die Entscheidung T 681/01, in der betont worden war, dass die in einem Anspruch verwendeten Begriffe den allgemeinen Auslegungsregeln für Patentansprüche zufolge in ihrer gewöhnlichen Bedeutung im Kontext des jeweiligen Anspruchs zu verstehen sind. Die Beschreibung darf nicht dazu herangezogen werden, den Anspruch neu zu formulieren und die anspruchsgemäßen technischen Merkmale auf eine Weise neu zu definieren, die durch den Wortlaut des Anspruchs nicht gerechtfertigt ist. Insbesondere darf sie nicht dazu herangezogen werden, einen Gegenstand aus dem Anspruch auszuklammern, der nach der gewöhnlichen Bedeutung der verwendeten Begriffe als Teil dessen gelten würde, was beansprucht wird. S. auch Kapitel II.A.6.3. "Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche".
In T 1188/15 bestand für den Fachmann kein Erfordernis, den Anspruch im Lichte einer bestimmten Ausführungsform in der Beschreibung, auf die der Anspruch nicht beschränkt war, in einem engeren Sinne auszulegen, da der Anspruch als solcher dem Fachmann eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittelte.
In T 1691/11 umfasste Anspruch 1 in allen Anträgen die Merkmale "mindestens zwei unabhängige programmierbare Motoren" und "wobei mindestens eine der Beförderungsvorrichtungen mit jedem der programmierbaren Motoren verbunden ist". Diese Merkmale waren klar und eindeutig, und die klare sprachliche Struktur des Anspruchs ließ keine andere Interpretation zu. Zudem war eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung kein triftiger Grund, um die klare sprachliche Struktur eines Anspruchs zu ignorieren und den Anspruch anders zu interpretieren (s. auch T 431/03). Ist der Wortlaut eines Anspruchs völlig klar, so gilt es, diesen Wortlaut gemäß Art. 83 EPÜ zu prüfen, anstatt den Anspruch anders und spekulativ zu interpretieren.
T 2182/11 betraf den zweiten Aspekt des Einwands des Beschwerdeführers (Einsprechenden), in dem es darum geht, dass die beanspruchte Erfindung aufgrund vager Angaben im Anspruch angeblich nicht im gesamten beanspruchten Bereich ausgeführt werden kann. Die Kammer wies in ihrer vorläufigen Stellungnahme insbesondere darauf hin, dass der Ausdruck "register with" sehr breit gefasst sei. Nach Auffassung der Kammer sei die Spannweite des Ausdrucks eine Frage, die das Klarheitserfordernis nach Art. 84 EPÜ betreffe und nicht auf einen Einspruchsgrund abhebe. Sofern der Einwand nach Art. 83 EPÜ zu prüfen sei, hindere die reine Tatsache, dass ein Begriff breit gefasst sei, einen Fachmann nicht daran, die Erfindung auszuführen.