10. Sekundäre Beweisanzeichen für das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit
Das Alter von Entgegenhaltungen, die lange vor der Anmeldung bekannt waren, kann nur dann ein Anzeichen für erfinderische Tätigkeit sein, wenn während der gesamten Zeit zwischen dem Tag des Bekanntwerdens der Entgegenhaltungen und dem der Erfindung die Notwendigkeit bestand, eine ungelöste Aufgabe zu lösen (T 79/82, T 295/94). Maßgebend sei nicht der Zeitraum zwischen der Veröffentlichung des früheren Dokuments und der Anmeldung des europäischen Patents, das die Lehre dieses Dokuments aufgreife, sondern vielmehr der Abstand zwischen dem Zeitpunkt, zu dem das entsprechende Problem zu Tage getreten, und dem Zeitpunkt, da seine Lösung zum europäischen Patent angemeldet worden sei (T 478/91).
In T 273/92 stellte die Kammer fest, dass in Zeitraum von 23 Jahren zwischen dem Veröffentlichungsdatum des als nächster Stand der Technik geltenden Dokuments und dem Prioritätsdatum des Streitpatents auf einem wirtschaftlich bedeutenden und stark bearbeiteten Fachgebiet normalerweise als Anzeichen für das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit angesehen werden kann. In T 203/93 und in T 795/93 wurde ein Zeitraum von 11 Jahren als positives Beweisanzeichen gewertet, in T 986/92 ein Zeitraum von 70 Jahren, in T 478/91 ein Zeitraum von 80 Jahren und in T 626/96 ein Zeitraum von 60 Jahren. S. auch T 774/89, T 540/92, T 957/92, T 697/94, T 322/95, T 255/97, T 970/97, T 6/02, T 2271/08.
In T 330/92 wurden die Druckschriften, die die allgemeinen Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Anmeldung (Spritzgusstechnik in Bezug auf Schutzhüllen für Scheckkarten) widerspiegeln, bereits mindestens 17 Jahre vor dem Anmeldetag des angefochtenen Patents veröffentlicht. Die Beschwerdekammer führte aus, dass die Elemente, die zur Kombination der Merkmale des Anspruchs 1 hätten führen können, somit im Stand der Technik seit langem bekannt gewesen seien. Trotzdem sei die Fachwelt in dieser langen Zeit gegenüber diesen Kenntnissen "blind" gewesen. Auch andere Anmelder in diesem Fachgebiet hätten diese Kenntnisse nicht genutzt.
In T 1077/92 sah sich die Kammer mit dem seltenen Fall konfrontiert, dass eine Aufgabe und ihre einfache Lösung 100 Jahre im Allgemeinen und unlängst noch auf einem Gebiet intensiver Forschung nebeneinander existierten, ohne dass der scheinbar naheliegende Schritt getan worden wäre. Daraus schloss die Kammer, dies sei mangels einer anderen Erklärung nur darauf zurückzuführen, dass erfinderisches Verständnis notwendig sei. In T 617/91 verglich die Kammer die Zeitspanne von 100 Jahren aus T 1077/92 mit den vorliegend 7 Jahren zwischen D1 und dem Prioritätstag der angeblichen Erfindung. Obwohl es während dieses gesamten Zeitraums einen starken Anreiz für Hersteller von Kugelgraphit-Gusseisen gab, nach besseren, weil sichereren und wirtschaftlicheren Verfahren zu suchen, war die Lehre von D1 in diesem Zeitraum ignoriert worden. Auch wenn D1 also rückblickend eine Lösung vorzuschlagen scheint, kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Lehre von D1 so allgemeingültig war, dass sie unbeachtet blieb und es ohne das erfinderische Verständnis des Beschwerdeführers auch geblieben wäre.
In T 123/97 war die Kammer der Ansicht, dass die Tatsache, dass eine naheliegende Lösung nicht auf die im Streitpatent zu lösende technische Aufgabe angewendet wurde, verschiedene Ursachen haben könnte: So könnten z. B. kommerzielle Erwägungen einer Anwendung dieser neuen Technik entgegengestanden haben, weil die alte Technik von den Benutzern als zufriedenstellend empfunden wurde und ebenfalls Spielraum für Verbesserungen bot und daher die mit einer industriellen Anwendung der neuen Technik verbundenen hohen Investitionskosten vermieden wurden. Die Kammer befand daher die beanspruchte Verwendung gemäß Anspruch 1 für nicht erfinderisch.
Bei der Erfindung in T 833/99 handelte es sich um ein Verfahren zur Herstellung eines Hohlschienen-Herzstücks für ein Straßenbahngleis. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit und aller bereits von ihr angeführten Elemente betonte die Kammer, dass hinzukomme, dass das Dokument D1 aus dem Jahr 1930 stamme und somit bereits 60 Jahre alt sei und dass in der Zwischenzeit bis zur vorliegenden Erfindung trotz der in D1 enthaltenen Anhaltspunkte kein Fachmann auf die Idee gekommen sei, das dort beschriebene Verfahren auf ein komplettes Herzstück anzuwenden. Die Kammer sah darin ein gewichtiges Indiz für ein Nichtnaheliegen, das nicht ignoriert werden könne.
In T 1192/09 erkannte die Kammer eine erfinderische Tätigkeit zu und merkte an, dass die tatsächlichen Entwicklungen auf dem betreffenden technischen Gebiet, wie sie durch die aktenkundigen Dokumente belegt werden, zusätzlich für eine erfinderische Tätigkeit sprechen. In diesem Zusammenhang verwies sie darauf, dass das Dokument D8 (nächstliegender Stand der Technik) etwa zwölf Jahre vor dem Anmeldetag des vorliegenden Patents veröffentlicht worden war. Die Tatsache, dass die beanspruchte Struktur mit ihren unbestrittenen Vorteilen selbst von den Erfindern aus D8 erst zwölf Jahre nach dessen Veröffentlichung vorgeschlagen wurde und später in D10 (europäisches Patent mit denselben Erfindern wie D8, das aber erst zwei Monate nach dem vorliegend angefochtenen Patent angemeldet wurde) positiv beurteilt und zum Gegenstand eines später erteilten europäischen Patents gemacht wurde, wertete die Kammer als zusätzliches Indiz für das Nichtnaheliegen des Konzepts, das der im vorliegenden Fall beanspruchten Erfindung zugrunde lag.