4.5.3 Prima-facie-Relevanz
In Bezug auf die Prüfung der Relevanz von Beweismitteln, Dokumenten und anderem Vorbringen lautet eine Linie der Rechtsprechung, dass "irrelevant" im Sinn von nicht "gewichtiger" oder "überzeugender" als das bereits vorliegende Material zu verstehen ist (s. z. B. T 611/90, ABl. 1993, 50, sowie die nachstehend zusammengefassten Entscheidungen).
In T 560/89 (ABl. 1992, 725) wurde ausgeführt, dass Dokumente, die nicht "aufschlussreicher" sind als die rechtzeitig eingereichten Entgegenhaltungen und nichts offenbaren, was die Entscheidung in eine andere Richtung lenken könnte, nach Art. 114 (2) EPÜ 1973 nicht in Betracht gezogen werden müssen. In T 1557/05 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) weitere Patentdokumente als Stand der Technik eingereicht. Die Kammer stellte fest, dass verspätet eingereichte Beweismittel nur dann zuzulassen sind, wenn sie prima facie relevanter sind als die bereits in der Akte enthaltenen Beweismittel. Diesbezüglich fügte die Kammer in T 1883/12 hinzu, dass es auf die Relevanz für die zu beweisenden Tatsachen ankommt; sind verspätet eingereichte Dokumente (hier: Patentdokumente) dem ersten Anschein nach für diese Tatsachen nicht relevanter als bereits zugelassene Beweismittel und fügen sie diesen somit offenbar nichts hinzu, so ist es im Sinne der Verfahrensökonomie angemessen, sie nicht zuzulassen.
Analog dazu wies die Kammer in T 1690/15 das Argument des Beschwerdeführers zurück, wonach die Relevanz absolut zu beurteilen sei. Die Kammer stellte fest, dass die Einspruchsabteilung bei der Prima-facie-Bewertung die offensichtlichen Merkmale der Offenbarung mit dem beanspruchten Gegenstand vergleicht. Kommt sie zu dem Schluss, dass diese Merkmale keine zusätzlichen Beweise über die bereits im Verfahren befindlichen hinaus liefern, ist es gerechtfertigt, diese Offenbarung außer Acht zu lassen. Ist sie nämlich nicht offensichtlich besser, besteht a priori keine größere Chance, mangelnde Patentierbarkeit zu beweisen, als mit den aktenkundigen Entgegenhaltungen.
Einer anderen Rechtsprechungslinie folgend haben die Kammern allerdings auch entschieden, dass es für die Prüfung, ob eine Druckschrift prima facie relevant ist, nicht entscheidend ist, ob sie von noch größerer Relevanz ist als eine früher eingereichte Druckschrift, sondern ob sie prima facie für den Ausgang des Falles entscheidend ist (s. z. B. T 1652/08, T 66/14 und T 1348/16). In T 66/14 erklärte die Kammer ferner, dass die verspätet eingereichte Druckschrift nicht isoliert vom Vortrag der sich auf sie stützenden Partei zu berücksichtigen ist. Vielmehr muss die Einspruchsabteilung bei ihrer Ermessensausübung berücksichtigen, welchen Einwand das verspätete Dokument untermauern soll.
In T 2165/10 ließ die Einspruchsabteilung die Dokumente E1 - E10 betreffend eine angebliche offenkundige Vorbenutzung nicht in das Verfahren zu. Die Kammer befand, dass die Prima-facie-Relevanz korrekt geprüft worden sei. Die Einspruchsabteilung hatte die Meinung vertreten, dass die Dokumente E1 - E10, was die Neuheit angehe, eine Reihe der beanspruchten Merkmale nicht offenbarten und, was die erfinderische Tätigkeit betreffe, die Aufgabe des angefochtenen Patents nicht lösten. Da es eine Entgegenhaltung (D4) gab, die sich auf diese Aufgabe bezog, sah die Kammer keinen Grund, die Begründung der Einspruchsabteilung zu beanstanden, dass die Vorbenutzung als Ausgangspunkt weniger relevant war.