3.3. Sachverhaltsprüfung – Anwendungsrahmen von Artikel 114 EPÜ im Beschwerdeverfahren
Grundsätzlich gilt Art. 114 (1) EPÜ auch im Beschwerdeverfahren. Danach muss die Beschwerdekammer den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln (s. J 4/85, ABl. 1986, 205; T 1800/07; T 1574/11). Die in Art. 114 (1) EPÜ verankerte Amtsermittlungspflicht wird insbesondere durch Art. 114 (2) EPÜ ausdrücklich beschränkt, dem zufolge verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel unberücksichtigt bleiben können; in den Art. 12 und 13 VOBK 2020 wird dies weiter präzisiert. Obwohl Art. 114 (1) EPÜ sich formal gesehen auch auf das Beschwerdeverfahren erstreckt, wird er in einem Inter-partes-Verfahren generell restriktiver angewandt als im Einspruchsverfahren (s. G 9/91, ABl. 1993, 408 und G 10/91, ABl. 1993, 420). In T 1370/15 stellte die Kammer fest, mithin sei es einer Kammer nicht gänzlich untersagt, neue Tatsachen und Beweismittel in ein Inter-partes-Verfahren einzuführen. In den Erläuterungen zu Art. 13 (1) VOBK 2020 heißt es: "Wenn die Kammer gemäß Artikel 114 Absatz 1 EPÜ von Amts wegen eine Frage aufwirft, muss das rechtliche Gehör des Beteiligten gemäß Artikel 113 Absatz 1 EPÜ beachtet werden." Wie die Kammer erklärte, geht aus diesem Satz klar hervor, dass es einer Kammer gemäß der VOBK 2020 nicht verwehrt ist, von Amts wegen Fragen aufzuwerfen.
Die Ermittlungspflicht nach Art. 114 (1) EPÜ 1973 besteht, wie die Große Beschwerdekammer in G 8/93 (ABl. 1994, 887) klar hervorgehoben hat, nur dann, wenn ein Verfahren anhängig gemacht worden ist (s. auch T 690/98). Schon in T 328/87 (ABl. 1992, 701) wurde festgestellt, dass die Ermittlung des Sachverhalts nur stattfinden kann, wenn die Beschwerde zulässig ist. Dieser Ermittlungspflicht sind dennoch Grenzen gesetzt. Dies gilt zunächst nach Art. 114 (2) EPÜ 1973 für den Fall, dass Tatsachen und Beweismittel verspätet vorgebracht werden, und außerdem für den Fall, dass der Beschwerdegegner (Einsprechende) seinen Einspruch zurücknimmt. So wurde in T 34/94 festgestellt: Ist bei einer Rücknahme des Einspruchs der Einsprechende Beschwerdegegner, so kann die Kammer Beweismittel berücksichtigen, die vom Einsprechenden vor der Zurücknahme des Einspruchs vorgebracht worden sind. Die Amtsermittlungspflicht geht aber aus verfahrensökonomischen Gründen nicht so weit, dass eine vom Einsprechenden geltend gemachte frühere mündliche Offenbarung geprüft werden muss, wenn die maßgeblichen Tatsachen ohne seine Mitwirkung schwer zu ermitteln sind. Damit wurde die Rechtsprechung der Entscheidungen T 129/88 (ABl. 1993, 598), T 830/90 (ABl. 1994, 713), T 887/90, T 420/91 und T 634/91 bestätigt (vgl. auch T 252/93 und T 1047/03).
Die Kammer wies in T 1574/11 darauf hin, dass die Beschwerdekammer weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt ist. Da das Beschwerdeverfahren in erster Linie dazu dient, die Richtigkeit des Ergebnisses der angefochtenen Entscheidung zu prüfen, ist die Kammer somit im Prinzip berechtigt, die darin genannten Beweismittel in Betracht zu ziehen, wenn sie diese als entscheidungserheblich erachtet.
Die Entscheidung T 182/89 (ABl. 1991, 391) definiert den Inhalt der Ermittlungspflicht: Art. 114 (1) EPÜ 1973 ist nicht so auszulegen, als wäre die Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer verpflichtet zu untersuchen, ob von einem Einsprechenden nicht substantiiert vorgetragene Einspruchsgründe begründet sind; vielmehr ist er dahin gehend zu verstehen, dass das EPA in die Lage versetzt werden soll, die Einspruchsgründe in vollem Umfang zu überprüfen, die sowohl genannt als auch entsprechend R. 55 c) EPÜ 1973 substantiiert vorgetragen wurden (ebenso T 441/91 und T 327/92).
In T 2501/11 führte die Kammer In ihrem Orientierungssatz folgendes aus: Wird eine Vorveröffentlichung einer Entgegenhaltung zulässigerweise bestritten, ohne dass die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Partei auf dieses Bestreiten substanziiert reagiert, kann diese Entgegenhaltung von der Kammer nicht als Stand der Technik herangezogen werden, da im Einspruchsbeschwerdeverfahren auf Grund des Charakters als streitiges Verfahren der Beibringungsgrundsatz gilt und daher das Amtsermittlungsprinzip (Art. 114(1) EPÜ) eingeschränkt ist.
In T 862/16 erhob die Kammer von Amts wegen einen weiteren Einwand nach Art. 76 (1) EPÜ. Der Beschwerdeführer beanstandete, dass die Kammer neue Fragen in das Beschwerdeverfahren eingeführt habe, und machte geltend, das Beschwerdeverfahren habe gemäß dem neuen Art. 12 (2) VOBK 2020 den Charakter einer gerichtlichen Überprüfung, in deren Rahmen die Beteiligten ihr Vorbringen gegenüber dem erstinstanzlichen Verfahren nur in sehr begrenztem Umfang ändern könnten. Daher sollte auch die Kammer nur begrenzt von Amts wegen neue Einwände erheben können. Die Kammer stellte fest, dass Art. 12 (2) VOBK 2020 das "vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens" dahin gehend beschreibe, "die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen," aber hauptsächlich, wenn nicht gar ausschließlich auf Pflichten der Beteiligten und nicht der Kammer abhebe. Weder diese noch irgendeine andere Bestimmung der VOBK 2020 könnten und würden nach Ansicht der Kammer die ihr durch die Art. 111 (1) und 114 (1) EPÜ übertragene Befugnis einschränken, von Amts wegen neue Einwände zu erheben. Dies wäre im Übrigen mit dem Geist und Ziel des Übereinkommens unvereinbar (Art. 23 VOBK 2020). Die Bestimmungen der VOBK als sekundäres Recht gemäß Art. 23 (4) EPÜ und R. 12c EPÜ könnten somit niemals Vorrang gegenüber den Bestimmungen des Übereinkommens selbst haben. Am Rande merkte die Kammer an, dass im Ex-parte-Beschwerdeverfahren jeder neue, d. h. durch die erstinstanzliche Abteilung nicht geprüfte Grund von einer Beschwerdekammer gemäß Art. 114 (1) EPÜ in das Beschwerdeverfahren einbezogen werden kann (vgl. G 10/93, ABl. 1995, 172). Dass die Kammer neue Einwände erheben könne, z. B. gar einen neuen Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit, sei ferner durch die Große Beschwerdekammer bestätigt worden (s. z. B. R 16/13).
In T 1370/15 hielt die Kammer in ihrem Orientierungssatz fest, dass eine Kammer nicht nur im Ex-parte-, sondern auch im Inter-partes-Beschwerdeverfahren neues, der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehendes allgemeines Fachwissen von Amts wegen einführen darf, ohne Beweismittel vorzulegen, soweit die Kammer aufgrund der Erfahrung der mit dem betreffenden Gebiet der Technik befassten Kammermitglieder sachkundig ist.