BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 13. Juni 1994 - G 8/93
(Amtlicher Text)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | P. Gori |
Mitglieder: | G. D. Paterson |
| F. Antony |
| C. Payraudeau |
| E. Persson |
| R. Schulte |
| P. van den Berg |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: Serwane, Karl
Einsprechender/Beschwerdeführer: Odenwald-Chemie GmbH
Stichwort: Rücknahme des Einspruchs/SERWANE II
Artikel: 114 (1) EPÜ
Regel: 60 (2), 66 (1) EPÜ
Schlagwort: "Rücknahme des Einspruchs ohne Rücknahme der Beschwerde" - "Beendigung des Beschwerdeverfahrens"
Leitsatz
Mit dem Eingang der Erklärung der Rücknahme des Einspruchs des Einsprechenden, der einziger Beschwerdeführer ist, wird das Beschwerdeverfahren unmittelbar beendet, und zwar unabhängig davon, ob der Patentinhaber der Beendigung des Beschwerdeverfahrens zustimmt, und zwar auch dann, wenn die Beschwerdekammer der Auffassung sein sollte, daß die Voraussetzungen für eine Aufrechterhaltung des Patents nach dem EPÜ nicht erfüllt sind.
Sachverhalt und Anträge
I. In der Sache T 148/89, die vor der Technischen Beschwerdekammer 3.2.2 anhängig ist, hat die Einspruchsabteilung den Einspruch des einzigen Einsprechenden zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung legte die Einsprechende Beschwerde ein. Der Patentinhaber nahm zur Beschwerde Stellung. Die Beschwerdekammer erließ einen Bescheid zusammen mit einer Ladung zu einer mündlichen Verhandlung. Nach der mündlichen Verhandlung wurde das Verfahren schriftlich fortgesetzt. Die Einsprechende erklärte: "Der Einspruch ... wird hiermit zurückgenommen."
Nach einem weiteren Schriftwechsel zwischen der Beschwerdekammer und dem Patentinhaber erließ die Beschwerdekammer mit Datum vom 24. Juni 1993 eine Entscheidung (T 148/89, ABl. EPA 1994, 898, in diesem Heft), mit der der Großen Beschwerdekammer folgende Frage vorgelegt wurde:
"Wird das Beschwerdeverfahren beendet, wenn die einzige Beschwerdeführerin und Einsprechende ihren Einspruch zurückgenommen hat und der Patentinhaber die Beendigung des Verfahrens beantragt, selbst wenn die Beschwerdekammer der Ansicht ist, daß das erteilte Patent den Erfordernissen des EPÜ nicht genügt?"
II. In der Vorlageentscheidung werden mehrere frühere Beschwerdekammerentscheidungen erwähnt, die davon ausgehen, daß durch die Rücknahme eines Einspruchs im Beschwerdeverfahren das Beschwerdeverfahren nicht automatisch beendet werde und demgemäß in einigen Fällen die Prüfung des Einspruchs aufgrund des Artikels 114 (1) EPÜ und der Regel 60 (2) EPÜ fortgesetzt worden sei. In der Entscheidung wird auch auf die Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 7/91 und G 8/91 (ABl. EPA 1993, 346 und 356) hingewiesen. Nach diesen Entscheidungen beende gemäß dem allgemein anerkannten Verfügungsgrundsatz die Rücknahme einer Beschwerde durch den einzigen Beschwerdeführer das Beschwerdeverfahren hinsichtlich der Sachfragen unmittelbar und Regel 60 (2) EPÜ sei nicht auf ein Beschwerdeverfahren anzuwenden. Verwiesen wird ferner auf die Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 9/91 und G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408 und 420), in denen die Große Beschwerdekammer ausgeführt habe, daß das Beschwerdeverfahren anders als das rein administrative Einspruchsverfahren als verwaltungsgerichtliches Verfahren anzusehen und seiner Natur nach weniger auf Ermittlungen ausgerichtet sei als ein Verwaltungsverfahren.
Die vorlegende Kammer erwähnte ferner, daß es möglicherweise die Absicht des einzigen Beschwerdeführers und Einsprechenden sein könne, mit der Rücknahme des Einspruchs und nicht der Beschwerde eine Fortsetzung des Verfahrens zu ermöglichen, weil nämlich die Rücknahme der einzigen Beschwerde der Entscheidung G 7/91 zufolge das Beschwerdeverfahren beende. Die vorlegende Kammer zieht in Analogie zu den Entscheidungen G 9/91 und G 10/91 in Erwägung, einen Antrag des Patentinhabers auf Beendigung des Verfahrens ausschlaggebend sein zu lassen. Im vorliegenden Fall wünschen beide Parteien übereinstimmend die Einstellung des Verfahrens.
III. Beiden Beteiligten am Beschwerdeverfahren wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Einsprechende hat sich nicht geäußert. Der Patentinhaber hat in seiner Stellungnahme hervorgehoben, daß die Rücknahme des Einspruchs als Wunsch nach Beendigung des gesamten Verfahrens angesehen werden könne; er hat ferner formell beantragt, daß das Verfahren in beiden Instanzen für beendet erklärt wird. Hilfsweise hat der Patentinhaber für den Fall, daß das Verfahren nicht abgeschlossen wird, den Antrag gestellt, daß ihm im weiteren Verfahren Gelegenheit zur Verteidigung seines Patents gegeben und eine mündliche Verhandlung anberaumt werde.
Entscheidungsgründe
1. Das Einspruchsverfahren ist in Teil V des EPÜ "Einspruchsverfahren", der die Artikel 99 bis 105 enthält, geregelt. Das Verfahren vor einer Einspruchsabteilung wird mit dem Erlaß einer Entscheidung über das Einspruchsbegehren abgeschlossen. Eine solche Entscheidung ist insoweit endgültig, als die Einspruchsabteilung danach nicht mehr befugt ist, ihre Entscheidung zu ändern (vgl. G 4/91, ABl. EPA 1993, 707). Ist das Einspruchsverfahren vor der Einspruchsabteilung durch eine Entscheidung der Einspruchsabteilung beendet, steht es einem beschwerten Verfahrensbeteiligten frei, Beschwerde zu erheben und damit ein Beschwerdeverfahren einzuleiten. Das Beschwerdeverfahren ist in Teil VI des EPÜ geregelt, der die Artikel 106 bis 112 enthält. Ein Beschwerdeverfahren kann naturgemäß erst nach Abschluß des Einspruchsverfahrens vor der Einspruchsabteilung eingeleitet werden. Insofern handelt es sich um zwei getrennte Verfahren.
2. Da nach einer Entscheidung der Einspruchsabteilung kein Verfahren über den Einspruch vor dieser Instanz mehr anhängig ist, kann eine Handlung, die von einer Partei in einem folgenden Verfahren vorgenommen wird, nur dieses Verfahren und den Gegenstand betreffen, der in diesem Verfahren behandelt wird. Im Fall der Beschwerde eines Einsprechenden ist Gegenstand des Beschwerdeverfahrens die zu entscheidende Frage, ob der Aufrechterhaltung des europäischen Patents in der erteilten oder der geänderten aufrechterhaltenen Fassung Einspruchsgründe entgegenstehen. Eine Rücknahme des "Einspruchs" durch den Einsprechenden und Beschwerdeführer kann daher nur bedeuten, daß er nicht mehr beantragt, daß die Beschwerdekammer über diese Frage entscheiden soll. Folgerichtig kann eine solche Rücknahme nur als Rücknahme der Beschwerde angesehen werden. Wurde die Rücknahme durch den einzigen Einsprechenden und Beschwerdeführer erklärt, so wird dadurch das Beschwerdeverfahren hinsichtlich der materiellen Rechtsfragen beendet, wie das die Große Beschwerdekammer in den Fällen G 7/91 und G 8/91 (ABl. EPA 1993, 346 und 356) ausgeführt hat. Da dem so ist, kommt es auf die Auffassung des Patentinhabers für die Frage der Beendigung des Beschwerdeverfahrens sowie die Auffassung der zuständigen Beschwerdekammer über die Gültigkeit des angegriffenen Patents nicht an (vgl. Punkt 10 und 11 der Entscheidungsgründe in G 7/91 und G 8/91). Mit dem Eingang der Erklärung der Rücknahme des Einspruchs des einzigen beschwerdeführenden Einsprechenden wird daher das Beschwerdeverfahren unmittelbar beendet, und zwar unabhängig davon, ob der Patentinhaber der Beendigung des Beschwerdeverfahrens zustimmt, und zwar auch dann, wenn die Beschwerdekammer der Auffassung sein sollte, daß die Voraussetzungen für eine Aufrechterhaltung des Patents nach dem EPÜ nicht erfüllt sind.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Mit dem Eingang der Erklärung der Rücknahme des Einspruchs des Einsprechenden, der einziger Beschwerdeführer ist, wird das Beschwerdeverfahren unmittelbar beendet, und zwar unabhängig davon, ob der Patentinhaber der Beendigung des Beschwerdeverfahrens zustimmt, und zwar auch dann, wenn die Beschwerdekammer der Auffassung sein sollte, daß die Voraussetzungen für eine Aufrechterhaltung des Patents nach dem EPÜ nicht erfüllt sind.