BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.2 vom 24. Juni 1993 - T 148/89 - 3.2.2*
(Amtlicher Text)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | G. Szabo |
Mitglieder: | C. Holtz |
| J. Du Pouget de Nadaillac |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: Serwane, Karl
Einsprechender/Beschwerdeführer: Odenwald-Chemie GmbH
Stichwort: Rücknahme des Einspruchs/SERWANE
Artikel: 112 (1) a), 114 (1) EPÜ
Regel: 55 c), 60 (2) und 66 (1) EPÜ
Schlagwort: "Rücknahme des Einspruchs ohne Rücknahme der Beschwerde" - "Beendigung des Beschwerdeverfahrens" - "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" - "Vorlage an die Große Beschwerdekammer"
Leitsatz
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Wird das Beschwerdeverfahren beendet, wenn die einzige Beschwerdeführerin und Einsprechende ihren Einspruch zurückgenommen hat und der Patentinhaber die Beendigung des Verfahrens beantragt, auch wenn die Beschwerdekammer der Ansicht ist, daß das erteilte Patent den Erfordernissen des EPÜ nicht genügt?
Sachverhalt und Anträge
I. Nach Einlegung der Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 26. Januar 1989, das europäische Patent 96 308 aufrechtzuerhalten, hat die Beschwerdeführerin ihren Einspruch am 8. November 1990 zurückgezogen.
II. Nachdem einige Fragen der Großen Beschwerdekammer vorgelegt wurden (G 7/91 und G 8/91) hat die Kammer den Parteien mitgeteilt, daß die Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer in diesen Fällen abzuwarten seien, weil diese die Beendigung bzw. Fortsetzung des Verfahrens nach Rücknahme des Einspruchs betreffen könnten.
III. Der Beschwerdeführerin wurde am 18. Januar 1993, nachdem die Entscheidungen G 7/91 und G 8/91 (ABl. EPA 1993, 346) ergangen waren, die Gelegenheit gegeben, falls sie die Rücknahme der Beschwerde beabsichtige, so bald wie möglich diese schriftlich einzureichen.
IV. Die Beschwerdeführerin hat mit Schriftsatz vom 26. Februar 1993 ausdrücklich nur auf ihre frühere Rücknahme des Einspruchs hingewiesen und, mit der Bitte um Verständnis, erklärt, nicht mehr an der Sache beteiligt zu sein, und daß sie keinerlei Anträge zu stellen beabsichtige. Die Beschwerde als solche wurde nicht zurückgenommen.
V. Der Patentinhaber hat mit Schriftsatz vom 11. März 1993 mitgeteilt, er sei der Meinung, daß das Verfahren wegen der Rücknahme des Einspruchs auch die Rücknahme der Beschwerde beinhalte. Er beantragt daher, das Beschwerdeverfahren als beendet zu erklären. Weiter hat der Patentinhaber erklärt, daß die Beschwerdeführerin ihm mitgeteilt habe, daß nach Ansicht der Beschwerdeführerin kein Anlaß bestehe, nach der Rücknahme des Einspruchs weitere Erklärungen abzugeben, da mit der Rücknahme des Einspruchs automatisch auch die Beschwerde als erledigt anzusehen sei.
Entscheidungsgründe
1. Die Frage der Folge einer Rücknahme der Beschwerde ist Gegenstand zweier Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer, G 7/91 und G 8/91. Der Umfang der Prüfung, sowohl im Einspruchs- als auch im Beschwerdeverfahren, wird in G 9/91 und G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408, 420) behandelt. Im vorliegenden Fall ist das Hauptthema, welche Verfahrensfolge eine Rücknahme des Einspruchs während des Beschwerdeverfahrens - aber ohne Rücknahme der Beschwerde - haben soll.
2. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern führt die Rücknahme eines Einspruchs im Hinblick auf Regel 60 (2) EPÜ nicht unbedingt dazu, daß das Verfahren automatisch beendet wird (vgl. z. B. T 117/86, ABl. EPA 1989, 401 und T 197/88, ABl. EPA 1989, 412, T 357/89, ABl. EPA 1993, 146 (Vorlageentscheidung zu G 7/91), T 695/89, ABl. EPA 1993, 152 (Vorlageentscheidung zu G 8/91) und T 789/89 vom 11. Januar 1993).
Allerdings wird über die prozessuale Folge unterschiedlich entschieden. In einigen Fällen hat die betroffene Kammer die Rücknahme als eine Rücknahme der Beschwerde gewertet und das Verfahren für beendet erklärt, z. B. T 117/86; in anderen, z. B. T 197/88, wurde das Verfahren fortgesetzt. In der Sache T 789/89 ging es um einen Einsprechenden, der Beschwerdegegner war, und das Patent wurde, gemäß des Antrags des Patentinhabers, im geänderten Umfang aufrechterhalten.
Auch die Sache T 60/91 (s. G 9/92, ABl. EPA 1994, 875), mit der der Großen Beschwerdekammer eine Frage bzgl. des Verschlechterungsverbots (reformatio in peius) vorgelegt wurde, scheint für den vorliegenden Fall von Interesse zu sein, zumindest dann, wenn die Große Beschwerdekammer entscheiden sollte, daß eine Sache nicht zum Nachteil der einzig zurückgebliebenen Partei (nachdem der Einspruch zurückgenommen ist) entschieden werden darf.
In der Sache T 377/88 hat die Kammer auf ihre Zuständigkeit nach Artikel 114 (1) i. V. mit Regel 60 (1) EPÜ hingewiesen und die Sache weitergeprüft. Die Entscheidung T 544/89 hat (mit Bezug auf T 156/84 und T 197/88) ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit betont und, gemäß Artikel 114 (1) EPÜ, den vollständigen Sachverhalt nach Rücknahme des Einspruchs überprüft.
Im vorliegenden Fall hat die Rücknahme des Einspruchs dazu geführt, daß das Verfahren gemäß Artikel 114 (1) EPÜ in Verbindung mit Regel 60 (2), letzter Satz, und Regel 66 (1) EPÜ zunächst fortgesetzt wurde.
3. In den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 7/91 und G 8/91 wurde geklärt, daß das Beschwerdeverfahren durch die Rücknahme der Beschwerde des einzigen Beschwerdeführers notwendigerweise beendet wird, soweit es die durch die angefochtene Entscheidung der ersten Instanz entschiedenen Sachfragen angeht, und daß eine Beschwerdekammer das Einspruchsbeschwerdeverfahren nicht fortsetzen kann, nachdem der einzige Beschwerdeführer, der in der ersten Instanz Einsprechender war, seine Beschwerde zurückgenommen hat.
In der Begründung dieser Entscheidungen wird unter anderem darauf hingewiesen, daß die Ausnahmeregelung in Regel 60 (2) EPÜ nicht auf das Beschwerdeverfahren anzuwenden ist. Regel 60 (2) EPÜ sei im Zusammenhang mit dem gemäß dem EPÜ der Patenterteilung nachgeschalteten Einspruchsverfahren zu betrachten, in dem es einen sachlichen Anlaß gebe, die generelle Kontrollmöglichkeit zu behalten (Nr. 7 der Entscheidungsgründe). Dies ist aber nur, wie die jetzige Kammer diese Begründung versteht, für die erste Instanz zutreffend.
Weiter wurde es von der Großen Beschwerdekammer für unbedenklich erachtet, daß die Beendigung des Verfahrens das Interesse der Öffentlichkeit nicht berücksichtigt, auch wenn eine Kammer "sehenden Auges" erleben müsse, daß ein "fehlerhafter" Beschluß dadurch Rechtskraft erlange. Die Große Beschwerdekammer äußerte zu diesem Punkt, daß im Prinzip angenommen werden müsse, daß das Patent diejenigen nicht störe, "die keine Einsprüche eingelegt haben" (Nr. 10.1 der Entscheidungsgründe). Obwohl die Große Beschwerdekammer die Frage einer Rücknahme des Einspruchs ohne Rücknahme der Beschwerde nicht berührt hat, würde ihre Überlegung auch für diesen Fall gültig sein, wenn der Patentinhaber einverstanden wäre.
Nach Ansicht der Kammer ist es relevant, daß auch im Beschwerdeverfahren der Patentinhaber ein Interesse haben kann, die Ansprüche durch Änderungen gewährbar zu machen. Ihm muß in einem solchen Fall eine Gelegenheit dazu gegeben werden. Zu diesem Thema hat sich die Große Beschwerdekammer in G 7/91, Nr. 11.1, in der Weise geäußert, daß aus allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts folge, daß ein Beschwerdeführer über die Anhängigkeit der von ihm eingelegten Beschwerde allein verfügen könne und daß Verfahrensbeteiligte gemäß Artikel 107 EPÜ (hier: der Patentinhaber) kein eigenes selbständiges Recht haben, das Verfahren fortzusetzen, wenn die Beschwerde zurückgenommen werde. Im vorliegenden Fall stellt sich aber die Frage, ob das Interesse des Patentinhabers, gewährbare Ansprüche zu haben, im Falle einer Rücknahme des Einspruchs dazu führen kann, daß das Verfahren dann fortgesetzt wird.
4. Sowohl nach der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 9/91 als auch der Stellungnahme G 10/91 ist die Zuständigkeit einer Beschwerdekammer, einen Einspruch zu überprüfen, auf den Umfang des Einspruchs, wie in der Einspruchsschrift nach Regel 55 c) EPÜ angegeben, beschränkt.
4.1 Dazu wurde weiter in G 10/91 bemerkt, daß sich das Verfahren vor der ersten Instanz, d. h. der Einspruchsabteilung, insoweit von dem vor der zweiten Instanz unterscheide, als die Einspruchsabteilung in Ausnahmefällen befugt sei, andere Gründe als die in der Einspruchsschrift angegebenen zu überprüfen, wohingegen die Beschwerdekammer nur mit Zustimmung des Patentinhabers solche neuen Gründe prüfen dürfe.
In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, daß die Beschwerde der unterlegenen Partei die Gelegenheit biete, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten. Es entspreche dieser Zweckbestimmung nicht, andere als die von der ersten Instanz geprüften Gründe zu überprüfen. Weiter stelle das Beschwerdeverfahren ein verwaltungsgerichtliches Verfahren dar, das weniger auf Ermittlungen ausgerichtet sei als ein Verwaltungsverfahren.
4.2 Die Kammer bemerkt hierzu folgendes:
Der Beschwerdeführer, der auch Einsprechender ist, ist völlig frei zu entscheiden, ob er das Verfahren zum Abschluß bringen will, auch gegen das Interesse des Patentinhabers oder irgendwelche Wünsche der Kammer, das Verfahren unter Bezugnahme auf Artikel 114 (1) EPÜ fortzusetzen, vgl. G 7/91.
Daraus folgt, daß der Grund, warum, wie im vorliegenden Fall, der Beschwerdeführer das Verfahren nicht mittels Rücknahme der Beschwerde zum Abschluß bringt, wahrscheinlich darin liegt, daß er nicht selbst diese Folge herbeiführen will. Diese Wahl wäre aber nur dann sachdienlich, wenn die Gesamtsystematik des EPÜ so auszulegen wäre, daß Artikel 114 (1) EPÜ notwendigerweise i. V. m. den Regeln 60 (2) und 66 (1) EPÜ, anwendbar ist. Die oben (Nr. 2) erwähnte Schlußfolgerung, daß das Verfahren zunächst fortzusetzen sei, wurde aufgrund dieser Auslegung erreicht.
In Analogie zu der Lage nach Regel 60 (2) EPÜ, ist es aber auch möglich, daß der Patentinhaber das Verfahren fortsetzen möchte, oder, daß das EPA Artikel 114 (1) EPÜ für anwendbar hält. Es stellt sich dann die folgende Frage: Würde in dieser prozessualen Lage die Stellungnahme des Patentinhabers, der den Abschluß des Verfahrens beantragt, rechtlich entscheidend sein, so daß das Verfahren unmittelbar abzuschließen ist?
5. Die oben erwähnten Darlegungen der Großen Beschwerdekammer betreffen die Frage der Folge einer Rücknahme des Einspruchs im Beschwerdeverfahren nicht unmittelbar; jedoch sind die Gründe und Überlegungen für eine Auslegung der prozessualen Folge einer Rücknahme des Einspruchs wichtig.
Für die Folge einer Rücknahme des Einspruchs im Beschwerdeverfahren ist dann folgendes zu beachten.
5.1 Die Überlegung der Großen Beschwerdekammer, daß es dem Einsprechenden, der seine Beschwerde zurückgenommen hat, nicht mehr störe, daß ein Patent erteilt werde, trifft insofern auch für den vorliegenden Fall zu, als anzunehmen ist, daß der einzige Einsprechende, der seinen Einspruch zurücknimmt, sich auch nicht gestört fühlen kann. Gemäß der Entscheidung G 8/91, Nr. 10.1, könnten sich andere Mitglieder der Öffentlichkeit, die keine Einsprüche eingelegt haben, im Prinzip auch nicht vom Patent gestört fühlen. Aus diesem Grund sollten beide Fälle identisch behandelt werden. "Wo kein Kläger, da kein Richter". Die Frage stellt sich: "Wo kein Einsprechender, da kein Kläger"?
5.2 Auch der Unterschied zwischen dem Zweck des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung und dem vor der Beschwerdekammer spricht dafür, daß das Beschwerdeverfahren nach Rücknahme des Einspruchs unmittelbar zu beenden ist, wenn der Patentinhaber auf sein Recht verzichtet, durch Änderungen gewährbare Ansprüche zu schaffen.
5.3 Das Ermittlungsprinzip nach Artikel 114 EPÜ scheint in dieser Lage nicht mehr anwendbar, da die von der Großen Beschwerdekammer hervorgehobenen Gründe damit übergangen würden.
5.4 Die Auslegung der Großen Beschwerdekammer, daß das Einspruchsverfahren eine Ausnahme vom Grundsatz ist, daß das erteilte europäische Patent ein Bündel von Patenten darstellt, scheint auch zur Schlußfolgerung zu führen, daß die Rücknahme eines Einspruchs (wenn nur ein Einspruch eingelegt ist) das Beschwerdeverfahren beendet. Es gäbe dann keinen Anlaß mehr für ein zentrales Verfahren.
6. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist ein Einsprechender, der seinen Einspruch zurückgenommen hat, nicht mehr Partei in der Sache (siehe z. B. T 117/86). Anderseits kann ein Antrag auf Kostenverteilung seitens des Beschwerdegegners (Patentinhaber) nach Artikel 104 EPÜ noch gestellt werden. Wenn der Einsprechende Beschwerdegegner ist (T 789/89), bleibt für ihn auch nur die Frage, ob ein Antrag auf Kostenverteilung gestellt wird.
Da die Einsprechende als nicht mehr beteiligt an der Sache anzusehen ist, und deswegen nur eine Partei übrig bleibt, die hier keine Anträge auf Änderungen des Patents gestellt hat, würde es sachdienlich scheinen, die Sache so abzuwickeln, daß das Verfahren mittels einer formellen Entscheidung beendet wird, entweder indem festgestellt wird, daß kein Kostenantrag gestellt ist, oder, nach Stellen eines solchen Antrags, indem eine kurze Erläuterung in der Kostensache gegeben wird.
7. Zu beachten ist aber auch, daß im vorliegenden Fall die Parteien sich so geäußert haben, daß es klar ist, daß die Rücknahme des Einspruchs die Folge einer Vereinbarung der beiden Parteien ist. Obwohl es ohne ein weiteres Verfahren ungewiß ist, ob das Patent den Erfordernissen des EPÜ genügt, ist die materielle Sachlage von keiner Bedeutung für die Beurteilung der Folge einer Rücknahme der Beschwerde (vgl. G 7/91 und 8/91).
8. Es stellt sich somit, nach Ansicht der Kammer, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, im Hinblick auf die Stellung der Parteien, wenn die einzige Einsprechende und Beschwerdeführerin ihren Einspruch zurückgenommen hat und erklärt, sich nicht mehr an der Sache zu beteiligen, während der Patentinhaber beantragt hat, das Beschwerdeverfahren für beendet zu erklären.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer wird die folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Wird das Beschwerdeverfahren beendet, wenn die einzige Beschwerdeführerin und Einsprechende ihren Einspruch zurückgenommen hat und der Patentinhaber die Beendigung des Verfahrens beantragt, auch wenn die Beschwerdekammer der Ansicht ist, daß das erteilte Patent den Erfordernissen des EPÜ nicht genügt?