BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.3 vom 8. September 1993 - T 376/90 - 3.3.3*
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | F. Antony |
Mitglieder: | H. H. R. Fessel |
| S. C. Perryman |
Patentinhaber/Beschwerdeführer: Sumitomo Chemical Company, Ltd.
Einsprechender/Beschwerdegegner: Hüls Aktiengesellschaft
Stichwort: Polymerlösung/SUMITOMO
Schlagwort: "Zulässigkeit des Einspruchs (bestätigt) - gesonderte Beschwerde von der Einspruchsabteilung nicht zugelassen (bestätigt)" - "Umfang des Einspruchs - Auslegung unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände" - "Neuheit - bejaht" - "erfinderische Tätigkeit - Zurückverweisung"
Leitsatz
Bestehen ernsthafte Zweifel darüber, in welchem Umfang gegen ein Patent Einspruch eingelegt wird, so kann der Einspruch als unzulässig verworfen werden (vgl. Entscheidungsgründe, Nr. 2.2.1).
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 0 059 106 wurde am 10. Juni 1987 auf die europäische Patentanmeldung Nr. 82 300 927.9 erteilt, die am 23. Februar 1982 unter Inanspruchnahme der Priorität dreier japanischer Patentanmeldungen, nämlich JP 25 753/81 vom 23. Februar 1981, JP 79 872/81 vom 25. Mai 1981 und JP 85 111/81 vom 2. Juni 1981, eingereicht worden war. Das Patent wurde mit 15 Ansprüchen erteilt, von denen Anspruch 1 wie folgt lautete:
...
II. Am 25. Februar 1988 wurde unter anderem wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit des Anspruchs 1 Einspruch eingelegt (vgl. z. B. S. 3, Zeilen 19 - 28).
...
III. In der Zwischenentscheidung vom 28. Dezember 1988 stellte die Einspruchsabteilung fest, daß der Einspruch zulässig sei, und erklärte, daß diese Entscheidung nur zusammen mit der Endentscheidung angefochten werden könne (Art. 106 (3) EPÜ). In der Endentscheidung, die am Ende der mündlichen Verhandlung vom 8. Dezember 1989, in der der Anspruch 1 geändert worden war, verkündet und am 5. März 1990 ausgefertigt wurde, widerrief sie das Patent.
Die Einspruchsabteilung führte aus, daß in dem Widerrufsantrag klar und deutlich angegeben sei, in welchem Umfang gegen das Patent Einspruch eingelegt und auf welche Gründe der Einspruch gestützt werde (Art. 100 a) und b) EPÜ); außerdem seien die zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel durch die angeführten Dokumente sowie die Angaben, die der Einsprechende in Verbindung mit konkreten Textpassagen aus diesen Dokumenten gemacht habe, hinreichend belegt.
...
IV. Am 2. Mai 1990 wurde gegen diese Entscheidung unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde eingelegt. Am Montag, den 16. Juli 1990 wurde eine Begründung eingereicht.
Darin und im weiteren Verfahren, insbesondere in der mündlichen Verhandlung vom 8. September 1993, hielt der Beschwerdeführer an seiner Behauptung fest, daß der Einspruch nicht zulässig sei, und berief sich dabei vor allem auf die Entscheidung T 222/85 (ABl. EPA 1988, 128).
In der Einspruchsschrift müßten die Tatsachen und Beweismittel so deutlich dargelegt werden, daß der Patentinhaber und die Einspruchsabteilung den angeführten Widerrufsgrund ohne eigene Nachforschungen prüfen könnten. Nicht nachprüfbare Behauptungen oder bloße Verweise auf Patentdokumente wie im vorliegenden Fall reichten hierzu nicht aus.
...
V. Der Beschwerdegegner bestritt die vom Beschwerdeführer zur Begründung der angeblichen Unzulässigkeit vorgebrachten Argumente (R. 56 (1) EPÜ), da das Einspruchsverfahren deutlich gezeigt habe, daß sowohl der Beschwerdeführer als auch die Einspruchsabteilung die Einspruchsgründe verstanden hätten.
...
VI. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrags sowie der Unteransprüche und der Beschreibung, die noch angepaßt werden müßten.
Der Beschwerdegegner beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Als erstes ist zu entscheiden, ob der Einspruch zulässig war und ob zu Recht verfügt wurde, daß die Vorentscheidung in dieser Frage nur zusammen mit der Endentscheidung anfechtbar sei.
2.1 Was den letzteren Punkt angeht, so hat die Einspruchsabteilung über die Zulässigkeit in einer Zwischenentscheidung im Sinne des Artikels 106 (3) EPÜ entschieden, d. h. einer Entscheidung, die das Verfahren gegenüber einem der Beteiligten nicht abschließt. Diese Bestimmung besagt unmißverständlich, daß eine solche Zwischenentscheidung nur zusammen mit der Endentscheidung anfechtbar ist, sofern nicht in der Entscheidung die gesonderte Beschwerde zugelassen ist. Ob diese zugelassen wird, liegt im Ermessen der Einspruchsabteilung. Die Kammer ist der Auffassung, daß die Einspruchsabteilung das Ermessen nach Artikel 106 (3) EPÜ pflichtgemäß ausgeübt hat, um möglichst rasch eine Entscheidung in den Sachfragen herbeizuführen.
2.2 Der Antrag des Beschwerdeführers, den Einspruch als unzulässig zu verwerfen, stützte sich auf die Regel 56 (1) in Verbindung mit der Regel 55 c) EPÜ, wonach die Einspruchsschrift folgendes enthalten muß:
i) eine Erklärung darüber, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt wird,
ii) die Gründe, auf die der Einspruch gestützt wird, sowie
iii) die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel.
2.2.1 In bezug auf Nummer i geht die Kammer von dem anerkannten Grundsatz aus, daß Erklärungen so auszulegen sind, wie der Adressat sie unter den gegebenen Umständen verstehen würde ("objektiver Erklärungswert", vgl. Entscheidung T 1/88 vom 26. Januar 1989, unveröffentlicht).
Bei Einsprüchen, die keine ausdrückliche Erklärung darüber enthielten, in welchem Umfang gegen das Patent Einspruch eingelegt wurde, war es bisher allgemein üblich, das Fehlen dieser Erklärung unterschiedslos dahingehend auszulegen, daß der Einsprechende gegen das Patent als Ganzes Einspruch einzulegen beabsichtigt. In Anbetracht der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408), wonach die Befugnis einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden soll, von dem Umfang abhängt, in dem gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird, muß aber dieser Umfang künftig wohl sorgfältiger untersucht werden, als dies bisher der Fall war, um sicherzustellen, daß das EPA die ihm nach dem EPÜ übertragene Befugnis nicht überschreitet. Es ist daher fraglich, ob die obengenannte "liberale" Praxis fortgesetzt werden kann. Wenn ernsthafte Zweifel über den Umfang bestehen, in dem gegen das Patent Einspruch eingelegt wird, kann dies im Extremfall dazu führen, daß der Einspruch als unzulässig verworfen wird.
Im vorliegenden Fall braucht über diese Rechtsfrage jedoch nicht entschieden zu werden, weil hier diesbezüglich kein ernsthafter Zweifel bestehen kann.
Das Patent wies nur einen unabhängigen Anspruch, den Anspruch 1 auf, der ebenso wie der Gegenstand der abhängigen Ansprüche 4, 5, 6 und 7 in der Einspruchsschrift ausdrücklich angefochten wurde; letztere enthielt auch allgemeine Erklärungen, wonach die beanspruchten Lösungen für das Problem, daß das Polymer an der Wandung haftet, dem Stand der Technik entnommen werden könnten. Der Einsprechende ließ nicht durchblicken, daß er sich auch mit der Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage eines stärker eingeschränkten Hauptanspruchs zufrieden geben würde. Unter diesen Umständen vertritt die Kammer die Auffassung, daß davon auszugehen ist, daß der Einsprechende den Widerruf des Patents als Ganzem anstrebte.
2.2.2 Die Kammer ist auch davon überzeugt, daß die Voraussetzungen ii und iii erfüllt sind. Da es genügt, wenn in der Einspruchsschrift nur einer der in Artikel 100 EPÜ aufgeführten Einspruchsgründe genannt und substantiiert wird, beschränkt sie sich bei ihrer Prüfung auf den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 in Verbindung mit Art. 100 a) EPÜ). Dieser Grund war auf Seite 3, Zeile 24 der Einspruchsschrift genannt. Als Tatsachen und Beweismittel wurden mehrere Vorveröffentlichungen angeführt, die in der Einspruchsschrift kurz zusammengefaßt und kommentiert waren. Der Angriff gegen den Anspruch 1 wurde ausgehend von der in der Patentschrift genannten Aufgabenstellung geführt und stützte sich auf das Argument, daß die angegebenen Probleme auf die Viskosität zurückzuführen seien und daß der Fachmann wisse, wie er damit umzugehen habe und somit zu der beanspruchten Lösung gelangen könne.
Zwar hätte die Beweisführung in der sieben Seiten starken Einspruchsschrift klarer sein können, doch stellt dies hier keinen Verstoß gegen die Regel 55 EPÜ dar. Der der Entscheidung T 255/85 zugrunde liegende Fall war ganz anders gelagert.
3. ...
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, das Verfahren auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchs 1 fortzusetzen.
* Die Entscheidung ist hier nur auszugsweise abgedruckt. Eine Kopie der ungekürzten Entscheidung in der Verfahrenssprache ist bei der Informationsstelle des EPA in München gegen Zahlung einer Fotokopiergebühr von 1,30 DEM pro Seite erhältlich.